Ist Lügen harmlos?

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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Lügen auf: “Es wird ständig gelogen, nicht nur in der Politik, auch in der Familie, in Freundschaften und am Arbeitsplatz. Wie viel Unwahrheit vertragen gute Beziehungen?”

Frage: Menschen sagen manchmal die Unwahrheit, doch mittlerweile scheint es immer weniger Hemmungen zu geben. Es wird ständig gelogen, nicht nur in der Politik. Im Job leugnet man Fehler, in der Partnerschaft sagt man nicht ehrlich, was einen stört, usw. Wie viel Unwahrheit vertragen gute Beziehungen und wann zerstört Lügen die Grundlagen des Zusammenlebens?

Jay Garfield: Ehrlichkeit ist wichtig, denn sie ist Teil dessen, was die soziale Ordnung zusammenhält und wesentlich für unseren eigenen Platz im sozialen Gefüge. Ehrlichkeit ist notwendig, wenn wir gute Freunde und gute Kollegen sein wollen und auch, wenn wir Verantwortung übernehmen wollen. Aus diesem Grund sollte man Lügen selbst in kleinen Dingen vermeiden.

Der Grund ist, dass jede erfolgreiche Gemeinschaft – sei es ein kleiner Club, ein Freundeskreis oder ein Staat – davon abhängt, dass die Mitglieder einander vertrauen können.

Wenn Sie einen Moment nachdenken, werden Sie sehen, wie bedeutsam das Vertrauen ist. Wir vertrauen den Banken, dass sie ehrlich mit unserem Geld umgehen, den Händlern, dass sie bei den Produkten und Preisen ehrlich sind, den Arbeitgebern, dass sie z.B. ein faires Gehalt zahlen.

Von Politikern erwarten wir Ehrlichkeit und Transparenz, was die Lage der Nation angeht und wie die Probleme gelöst werden sollen. Und natürlich vertrauen wir darauf, dass Freunde und Familienangehörige uns gegenüber aufrichtig sind; das ist wesentlich für eine gelingende Beziehung.

Sogar von Fremden erwarten wir, dass sie ehrlich sind, zum Beispiel wenn wir an einem uns unbekannten Ort nach dem Weg fragen. Ja, wir selbst versuchen in der Regel auch, vertrauenswürdig zu sein, richtig Auskunft zu geben, offen zu kommunizieren, fair zu sein. Ohne dieses breite Netz des Vertrauens und ohne Vertrauen als Basis in Gesprächen und Auseinandersetzung wäre eine Gesellschaft nicht möglich.

Und wir brauchen die Gesellschaft, da wir von Natur aus soziale Wesen sind. Aus diesem Grund ist Lügen eine ernste Angelegenheit: Lügen schadet nicht nur dem Gegenüber, indem man ihm eine falsche Information gibt; man macht sich selbst unglaubwürdig und beeinträchtigt damit seine Teilnahme an der sozialen Ordnung.

In einem größeren Rahmen bedeutet Lügen einen Angriff auf das Netz des Vertrauens, das die soziale Ordnung erst ermöglicht. Wenn sich also Lügen verbreitet und zur Gewohnheit wird, ist das alarmierend, auch wenn es sich scheinbar um Kleinigkeiten handelt oder sie beiläufig sind.

Manchmal gibt es Ausnahmen, etwa in Situationen, in denen die Weitergabe wahrer Informationen katastrophale Folgen haben würde. Aber diese Fälle sind selten. Sie treten vor allem in Situationen auf, in denen die sozialen Strukturen bereits zusammengebrochen sind, wie bei kriminellen Handlungen oder in Kriegszeiten.

Wenn jemand nach einer bestimmten Person fragt, um sie zu ermorden, ist es in Ordnung, die Unwahrheit zu sagen, um das Leben des Betreffenden zu schützen. Aber solche Situationen kommen extrem selten vor. Generell gilt: Lügen ist nur dann erlaubt, wenn die sozialen Strukturen, die auf Vertrauen und Ehrlichkeit basieren, zusammengebrochen sind.

Die Unwahrheit zu sagen, ist nicht harmlos. Deshalb sollte jede und jeder von uns muss dazu beitragen, das Fundament zu erhalten, auf dem wir alle ein gutes Leben führen und einander vertrauen können.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

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Jay Garfield, Foto: Spitz
Jay Garfield, Foto: Spitz

Prof. Dr. Jay L. Garfield

ist Professor für Philosophie am Smith College, in Northhampten in den USA. Zudem ist er Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt Losing Ourselves: Learning to Live without a self (2022).

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