Ist Gleichgültigkeit moralisch verwerflich?

biffspandex/ iStock
biffspandex/ iStock

Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zu der Einstellung auf, mit der wir auf die Krisen der Zeit reagieren: “Angesichts der vielen Krisen antworten manche Freunde mit Zynismus oder Gleichgültigkeit. Ist diese Haltung unmoralisch?”

Text: Prof. Jay Garfield

Frage: Wenn man die Nachrichten verfolgt, könnte man verzweifeln. Einige Menschen aus meinem Umfeld flüchten in Gleichgültigkeit und Zynismus, sie ziehen sich ins Private zurück. Sie sagen zum Beispiel, dass die Erde auch ohne die Menschen leben kann. Ist so eine Einstellung nicht moralisch verwerflich, weil ihnen die Lebewesen egal sind? Ich bin hin- und hergerissen zwischen „Wir können eh nichts tun“ und dem Versuch, Leiden zu lindern – und sei es nur in unserem kleinen Umfeld.

Jay Garfield: Ich verstehe den Impuls, gleichgültig oder zynisch zu sein, und habe ihn oft selbst, wenn ich die erschreckenden und deprimierenden Nachrichten lese oder höre, die uns jeden Tag erreichen. Wir leben in schwierigen, ja bedrohlichen Zeiten, denken Sie nur an Kriege und die Klimakrise.

Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass ein Rückzug in Zynismus oder Gleichgültigkeit die falsche Reaktion ist. So eine Einstellung ist nicht nur überhaupt nicht hilfreich, um die Probleme zu lösen, sie fördert sogar die Probleme.

Viele der großen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind von Menschen gemacht und oft auch Folge einer falschen Politik. Kriege sind ein offensichtliches Beispiel, aber auch Hungersnöte, wirtschaftliche Ungleichheit, Umweltzerstörung und Arbeitslosigkeit. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass jedes dieser Probleme durch konzertiertes menschliches Handeln direkt lösbar ist.

Einiges wird bereits unternommen, sei es von Nicht-Regierungsorganisationen, internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, engagierten Einzelpersonen oder kleinen Gruppen, aber auch von einzelnen Regierungen, die sich für die Menschen und die Zukunft des Planeten einsetzen.

Rechtspopulisten heizen negative Stimmungen an

Dieses konstruktive Handeln wird jedoch häufig von anderen nationalen und internationalen Akteuren blockiert – darunter politischen Führern, Oligarchen, Unternehmen sowie Gruppen von Bürgern, die nur aus persönlichen Interesse heraus handeln oder durch Propaganda dazu gebracht werden, sogar gegen ihre eigenen Interessen zu handeln.

Es gibt viele Mechanismen, mit denen die Akteure das gute kollektive Handeln, das diese Probleme lösen könnte, verhindern, etwa Gewalt, Zwang, Desinformation usw. Ein Hauptmittel ist, Zynismus, Gleichgültigkeit, ja sogar Verzweiflung bei den Menschen anzuheizen. Das sehen wir ganz klar z.B. bei den Rechtspopulisten überall auf der Welt.

Sie zeichnen düstere Bilder der Lage und manipulieren die öffentliche Meinung. Auf destruktive Weise fördern sie negative Gefühle. Der Zynismus, der daraus erwächst, verhindert gerade, dass man sich mit anderen Menschen zusammenschließt, um gegen diejenigen vorzugehen, die Schaden über das Land bringen.

Wer Probleme lösen will, muss sich mit anderen zusammenschließen

Sich zurückziehen und gleichgültig sein bedeutet, denjenigen den Sieg zu überlassen, die die Welt zu ihrem eigenen Vorteil zerstören wollen. Wenn wir die gewaltigen Probleme lösen wollen, müssen wir mit anderen zusammenarbeiten.

Manche führen an, sie müssten ihre geistige Gesundheit erhalten; das sei der Grund, sich ins Private zurückzuziehen und auch keine Nachrichten mehr zu verfolgen. Doch das trägt gerade nicht zur inneren Gesundheit bei, denn wer sich zurückzieht, wird nicht glücklicher.

Stattdessen halten mit der Gleichgültigkeit auch Schuld und Einsamkeit Einzug. Sich zurückzuziehen, aufzugeben, um die eigene geistige Gesundheit zu bewahren, ist daher selbstzerstörerisch.

Glück kommt aus Beziehungen, Gemeinschaft und Solidarität. Es entsteht auch aus dem Bewusstsein, dass ich als Einzelne etwas zur Lösung beitrage und nicht an der Zerstörung mitschuldig werde.

Aus diesen Gründen bin ich überzeugt, dass die einzige vernünftige Antwort auf die unzähligen globalen Probleme darin besteht, sich in Organisationen zu engagieren, die sich für eine bessere Welt einsetzen. Wir sollten unser Glück in Hoffnung, Entschlossenheit und Gemeinschaft finden.

Über meinem Schreibtisch hängt ein Gedicht vom Dalai Lama mit dem Titel „Never Give Up“, daraus zitiere ich hier:

Egal, was passiert,
Gib niemals auf.

Entwickle das Herz.
Sei mitfühlend.
Nicht nur zu deinen Freunden,
sondern zu allen.
Sei mitfühlend,
Arbeite für den Frieden
in deinem Herzen und in der Welt.

 

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick

Loading

Jay Garfield, Foto: Spitz
Jay Garfield, Foto: Spitz

Prof. Dr. Jay L. Garfield

ist Professor für Philosophie am Smith College, in Northhampten in den USA. Zudem ist er Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt Losing Ourselves: Learning to Live without a self (2022).

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Fresco von Raffael, gemeinfrei

Kann eine Demokratie kippen?

Was Platon uns heute zu sagen hat Die Demokratien sind unter Druck, Rechtspopulismus und Autokratien erstarken. Der griechische Philosoph Platon sah die Gefahr, dass eine Demokratie in eine Tyrannei abdriften könnte, wenn der Freiheitsdrang alle Autoritäten in Frage stelle und Demagogen die Menschen manipulierten. Die Autorin fragt, was wir für die moderne Demokratie von Platon lernen können.
birdys/ Photocase

„Demokratie hat viel mit dem gelingenden Leben zu tun“

Interview mit Politikwissenschaftlerin Linda Sauer Rechtspolulisten verschieben die Grenzen des Sagbaren und Machbaren. Wie steht es um unsere politische Resilienz, fragt Linda Sauer. Sie spricht im Interview über eine Politik, die drängende Probleme lösen muss, und nimmt auch die Bürger*innen in die Pflicht: „Wir waren lange zu passiv“ und sollten uns mehr engagieren.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Cover Schutzbach, Frauen

Für mehr weibliche Solidarität!

Ein Buch der Soziologin Franziska Schutzbach Die Emanzipation der Frauen gelingt dann, wenn sich Frauen zusammenschließen, diesen Gedanken entwickelt Franziska Schutzbach in fünf Essays. Sie untersucht verschiedene Arten von Frauenbeziehungen und den tiefen Wunsch nach Kooperation. Ihr Buch „Revolution der Verbundenheit“ ermutigt dazu, sich an Frauen zu orientieren und nicht an Männern, um die Welt zum Positiven zu verändern.
Jo Gavao/ Shutterstock

Die Kirche ist vielfältiger, als man denkt

Zur Situation nach der Wahl von Papst Leo XIV. Die katholische Kirche ist die größte Organisation der Welt. Doch was wie ein einheitlicher Block erscheint, ist ein Gebilde aus vielen Teilen. Religionswissenschaftlerin Ursula Baatz über die Kirche nach der Papstwahl und den Kampf zwischen Traditionalisten und Progressiven.
Der Kontrollpunkt 300 trennt Jerusalem und das Westjordanland I Foto: Samuel Smith

Eine Reise in das Westjordanland

Eindrücke von Gesprächen mit Palästinensern Das Westjordanland ist nur fünf Minuten Autofahrt von Israel entfernt. Johannes Zang war im Frühjahr 2025 dort und sprach mit Palästinensern. Hier schildert er seine Eindrücke: von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, von Standhaftigkeit und Ratlosigkeit, von Zweckoptimismus und Zuversicht.
Foto: privat

“Ich bin gestärkt aus dem Gefängnis gekommen”

Audio-Interview dem Klima-Aktivisten Karl Braig  "Mein Handeln war richtig", sagt Karl Braig, 69, der für eine Klima-Aktion fünf Monate in Haft war. Jetzt genießt er die Freiheit und muss sich neu zurechtfinden. Sein Engagement für den Klimaschutz will er fortsetzen, denn man müsse sich wehren gegen die Tatenlosigkeit der Politik. Er hofft auf die Zivilgesellschaft.