„Junge Menschen sind bei uns in der Minderheit”

Ahmed/ Unsplash
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Interview mit dem Soziologen Sebastian Kurtenbach

Kinder und Jugendliche haben große Zukunftsaufgaben zu bewältigen. Doch das politische System bevorzugt ältere Menschen. Die Jüngeren haben keine Lobby. Prof. Sebastian Kurtenbach fordert im Interview, die junge Generation ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken und ihnen wirklich zuzuhören.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Was sind die größten Herausforderungen für Kinder und Jugendliche heute?

Kurtenbach: Die Zukunftsaufgaben für die nachkommenden Generationen sind immens: Sie sollen den Klimawandel halbwegs in den Griff bekommen, die Rente sichern, die Verteidigungsfähigkeit dieses Landes organisieren usw.

Das Problem ist aber, dass sie wenige sind. Die Frage ist also: Bekommt diese kleine Gruppe die Ressourcen, um diese großen Aufgaben zu bewältigen? Und da müssen wir feststellen, dass es nicht danach aussieht.

Was bedeutet die hohe Zahl älterer Menschen im Vergleich zu Jüngeren für eine Gesellschaft?

Kurtenbach: Darauf gibt es mehrere, auch widersprüchliche Antworten. Egal, ob man ältere oder jüngere Menschen befragt. Sie wollen, dass es dem anderen gut geht. Jüngere beispielsweise halten nichts von Rentenkürzungen oder schlechter Pflege. Das Verhältnis zwischen den Generationen ist so gut wie noch nie. Das heißt, die persönlichen Beziehungen sind gut, das Interesse aneinander ist hoch.

Auf der Ebene der Systeme sieht es anders aus: Es wird wesentlich mehr Geld für Ältere ausgegeben. Die angesetzten Ausgaben im Bundeshaushalt 2025 liegen bei 127 Milliarden Euro Steuerzuschuss für die beitragsfinanzierte Rente und zur Bekämpfung von Altersarmut.

Die Ausgaben für Kinder und Familien betragen nur einen Bruchteil davon. Aufgrund der demografischen Struktur haben sich also Schieflagen entwickelt, die wenig mit dem Interesse aneinander zu tun haben.

Ich sehe keinen ausgewachsenen Generationenkonflikt im Empfinden von Menschen, vielmehr einen Zusammenhalt von Generationen. Aber das hat sich nicht auf eine Strukturebene übertragen. Und das ist das Problem, in das wir uns gerade hineinbewegen: Kinder, die die großen Zukunftsaufgaben zu erledigen haben, werden dafür nicht adäquat ausgestattet. Deswegen muss man die Ressourcen anders organisieren.

Auf politischer Ebene werden Kinder nicht nach ihrer Meinung gefragt.

Was wären aus ihrer Sicht Möglichkeiten, jüngere Menschen mehr zu unterstützen oder darauf vorzubereiten, diese Aufgaben lösen zu können?

Kurtenbach ist Co- Autor des Buches: “Kinder – Minderheiten ohne Schutz”

Kurtenbach: Wir haben eine Kultur, in der wir Kindern nicht zuhören. Bestes Beispiel die Diskussion über die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Wenn man sich den Gesamtdurchschnitt der Umfragen anschaut, ist die Zustimmung relativ groß, was aber an den vielen Älteren liegt.

Die Jüngeren sind eher dagegen, was wir aber in der Debatte überhaupt nicht berücksichtigen. Wir stellen nicht einmal die Frage, warum die Jüngeren dagegen sind.

Es gibt also keine Kultur des Zuhörens. Das beginnt in der Kita und setzt sich in der Schule fort. Viele Studien, die das Wohlbefinden von Kindern behandeln, fragen Lehrer und Eltern aber nicht die Kinder.

Die UWE-Studie, geprägt von Klaus Peter Strohmeier, ist eine der wenigen Studien, die Kinder direkt nach ihrer Perspektive befragen. Wir brauchen also Strukturen und Systeme, die Kinder fragen. Eine Möglichkeit wären regelmäßige systematische Befragungen von Kindern, aber auch die Etablierung von sogenannten Zukunftsräten.

Was sind Zukunftsräte?

Kurtenbach: Ein Zukunftsrat ist ein Gremium, besetzt mit jungen Leuten zwischen zehn und 35 Jahren. Er wird jedem Parlament und jedem Stadtrat zur Seite gestellt. Bevor eine Entscheidung getroffen wird, hat dieser Zukunftsrat die Möglichkeit, eine Stellungnahme zu erarbeiten und Expertinnen oder Experten einzuladen.

Das beschlussfassende Gremium, also Stadtrat oder Parlament, müsste sich dann öffentlich zur Stellungnahme des Zukunftsrats verhalten. Zukunftsräte würden demnach innerhalb von Entscheidungsprozessen die Perspektive von Kindern und Jugendlichen offenlegen.

Die Boomer sollten sich ehrenamtlich für Kinder engagieren.

Können die älteren Menschen die jungen auch ganz direkt unterstützen?

Kurtenbach: Wenn nur 10  Prozent der Boomer-Generation, die bald in Rente geht, sich in irgendeiner Weise ehrenamtlich für Kinder engagieren würde, hätten wir in Deutschland mehr Engagierte als pädagogisches Personal in Kitas und Grundschulen zusammengenommen.

Aber es gibt keine systematische Ansprache. Dabei wissen wir, dass diejenigen, die sich für die Gesellschaft engagieren, einen sinnerfüllten Ruhestand erleben. Man könnte also beispielsweise dem Rentenbescheid einen Brief beilegen, der auf eine Beratung bei der eigenen Kommune verweist. Das kann man auch gut mit den Wohlfahrtsverbänden gemeinsam organisieren.

Wie sehen Sie die Rolle der Schule bei einem solchen kulturellen Wandel?

Kurtenbach: Kinder verbringen immer mehr Zeit in der Schule. Sie muss Leistungen erbringen, die bisher die Familie erbracht hat. Schule, wie sie heute ist, kann das nicht. Dafür bilden wir Lehrkräfte nicht aus, dafür sind auch die Gebäude nicht ausgelegt. Das heißt, wir müssen Schulen in irgendeiner Weise ergänzen.

Wir schlagen vor, diese wichtigen Orte der Kindheit zu gesellschaftlichen Orten in Form von Community Zentren weiterzuentwickeln. Das meint eine Art Stadtteilcampus, wo auch Vereine oder Coworking Spaces Platz finden. Dafür braucht es in der Regel ein zusätzliches Gebäude, aber es lohnt sich.

Ein Beispiel: Ein Kind hat Probleme beim Lesenlernen. Die Campusleitung und die Schulleitung reden miteinander und die Campusleitung organisiert Lesepaten. Oder die Freiwillige Feuerwehr trainiert jeden Dienstag um 14 Uhr und lädt Kinder aus dem Community Zentrum dazu ein. Das wäre eine systematische Weiterentwicklung der offenen Ganztagsschule.

Auf diese Weise könnten wir Schule und Gesellschaft systematisch miteinander verweben. So würden wir auch eine demokratische und resiliente Gesellschaft fördern, weil wir echte Gemeinschaftsorte hätten, und nicht abgeschottete Sonderumwelten.

Wir überfordern die Schule, es gibt zu wenig Ressourcen.

Kulturwandel würde hier bedeuten, Beziehungsnetze herzustellen, die Vertrauen ermöglichen.

Kurtenbach: Ja, und diesen Kulturwandel braucht es auch in der Schule. 50.000 Kinder verlassen pro Jahr die Schule ohne Abschluss. Das Schulsystem nimmt das so hin, weil es keine systematische Verantwortungsübernahme gibt.

Wenn die Schule mit etwas nicht zurechtkommt, beispielsweise das Kind lernt nicht gut Mathe, dann wird die Verantwortung an die Familie übertragen. Aber wenn beide Eltern berufstätig sind, können sie schlichtweg nicht in ausreichendem Maße helfen. Es könnte die Aufgabe der Schule im Community Zentrum sein, entsprechende Leistungen für das Kind zu organisieren.

Das bedeutet auch ein anderes Selbstverständnis der Lehrenden. In einem Community Zentrum könnte man gemeinsam überlegen, wie jedes Kind optimal gefördert werden kann. Welche Möglichkeiten gibt es und wie können wir diese den Kindern entsprechend zur Verfügung stellen?

Dafür bräuchte es auch eine Entlastung oder Unterstützung der Lehrenden, die oft überfordert sind.

Kurtenbach: Weil wir Schule total überfordern. Wir erwarten, dass Schule Aufgaben übernimmt, für die sie nicht gemacht ist: Sozialkompetenztraining, Gesundheitsbewusstsein, Demokratiebildung usw. Wir überfordern das System Schule systematisch.

Die Schule sollte weniger Aufgaben haben und sich auf das beschränken, was ihre Kompetenz ist. Für alles andere gibt es multiprofessionelle Teams, am besten aus dem Stadtteil, mit den Ressourcen, die lokal zur Verfügung stehen.

Verschärft die Migration die Herausforderungen, vor denen wir in einer alternden Gesellschaft stehen?

Kurtenbach: Das Interessante ist, wenn man Kinder das fragt, dann ist das für sie überhaupt keine Kategorie. Migration ist in ihrem Erleben unwichtig und vor allem gibt es diese Kategorie Migration nicht. Es gibt Mitschülerinnen und Mitschüler aus Syrien, der Türkei, Ukraine oder woher auch immer.

Die Homogenisierung, die mit dem Begriff „Migrationshintergrund“ einhergeht, ist ein Fehlschluss. Wenn man sich eine Schulklasse anschaut und fragt: Welche Sprache sprichst du, welche Religion hast du? Dann bekommt man ein ganz anderes Bild.

Deswegen sprechen wir von Superdiversität. Eine durchschnittliche Grundschulklasse ist diverser als ein durchschnittlicher Vorstand eines DAX-Unternehmens. Und das ist die Zukunft dieser Gesellschaft.

Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach, Jahrgang 1987, ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der FH Münster und Privatdozent an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Er studiere Soziale Arbeit (B.A) an der Hochschule Düsseldorf, Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum (M.A.), promovierte in Soziologie an der Universität zu Köln und habilitierte sich in Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum. Ko-Autor des Buches „Kinder – Minderheit ohne Schutz. Aufwachsen in einer alternden Gesellschaft“ erschienen 2025.

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