Warum Belohnung und Strafe zwei Seiten einer Medaille sind
Kinder belohnen, um ihr Verhalten zu steuern – das ist eine beliebte pädagogische Methode, aber auch eine Machtdemonstration. Belohnungen funktionieren allemal kurzfristig. Sie können sogar die intrinsische Motivation von Kindern untergraben und ihr Selbstwertgefühl schwächen.
Text: Sarina Hassine
„Wenn ihr euer Zimmer jetzt aufräumt, bekommt ihr auch jeder ein Eis!“, biete ich meinen Kindern an, um zu schauen, wie sie darauf reagieren. Anstatt motiviert ans Werk zu gehen, schauen mich die beiden ratlos an. „Das ist aber ein komischer Tausch, Mama“, antwortet das eine stirnrunzelnd. „Das ist ja Erpressung!“, ruft das andere empört.
Wir benutzen bewusst keine Belohnungssysteme in der Familie. Inspiriert haben uns die Bücher von Experten wie Jesper Juul und Alfie Kohn und Literatur zur achtsamen, bedürfnis- und beziehungsorientierten Elternschaft.
Vor allem das Buch „Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung“ von Alfie Kohn half uns, eigene Impulse und Muster besser zu verstehen und überholte Erziehungsmethoden zu hinterfragen.
Sein wegweisender Ratgeber ist schon 20 Jahre alt und provoziert noch heute: Man müsse doch Anreize bieten, gutes Verhalten hervorheben und Leistungen vergleichen und bewerten! Wie soll man Kinder denn sonst dazu bringen, sich richtig zu verhalten?
Von Likes bis Lob: Wie Belohnung unser Verhalten steuert
Lob und Belohnungen als Mittel zur Verhaltenssteuerung zu benutzen, ist tief in der menschlichen Gesellschaft verankert. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte die verhaltenspsychologische Forschung, wie man das Verhalten durch positive Verstärkung (Belohnung) steuern kann. Damit lieferte sie das theoretische Fundament für bis heute genutzte Belohnungssysteme.
Mit den digitalen Medien hat sich die Belohnung in Form von Likes, Punkten, Levels und Abzeichen vervielfacht und scheint allgegenwärtig wie beispielsweise in Computerspielen, Fitness-Apps und auf Social Media. Bei Erwachsenen wird das Prinzip fortgeführt, wenn Unternehmen auf Bonusprogramme und Prämienmodelle zur Kunden- und Mitarbeiterbindung setzen.
Oft kommt die Belohnung ganz harmlos daher: So ködert die von Schulen empfohlene „Anton App“ Kinder mit Gaming-Zeit, wenn sie richtig schreiben und rechnen. Großeltern versprechen Geld für gute Zeugnisse, Eltern belohnen die Mithilfe im Haushalt mit Süßigkeiten.
Warum sind diese Methoden so beliebt? Ein Grund ist sicherlich, dass sie kurzfristig „funktionieren“ – wir kriegen Kinder dazu, das zu tun, was wir uns wünschen. Doch bei näherer Betrachtung offenbart sich dahinter das Bedürfnis nach Macht und Kontrolle.
Elternsein ist für viele die größte Herausforderung ihres Lebens. Die wenigsten haben gelernt, wie sie ihre Autorität auf konstruktive Weise etablieren können. Mein Kind fühlte sich prompt erpresst, als ich ihm „Eis gegen Aufräumen“ anbot. Intuitiv durchschaut es das Spiel und spürt, dass ich damit meine Macht demonstriere, die Belohnung zu verteilen oder eben nicht.
„Dass Kinder ihre Eltern loben, Schüler*innen ihre Lehrer*innen, Angestellte ihre Chefs – das geschieht kaum“, sagt Kohn. „Lob ist ein Topdown-Ansatz, das sollte uns ganz grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Konzept machen.“
Belohnen ist kontraproduktiv
Zudem impliziert diese Herangehensweise ein überholtes Bild vom Kind, das selbst nicht motiviert ist. Alfie Kohn erklärt: „Je mehr wir Kinder mit Belohnungen kontrollieren, desto weniger lernen sie, ihr eigenes Verhalten aus intrinsischer Motivation heraus zu steuern.“ Intrinsisch bedeutet, aus eigenem Interesse oder Freude heraus.
Wenn Kinder belohnt werden, weil sie ein Buch lesen, betrachten sie das Lesen in Zukunft nicht als etwas an sich Wertvolles, sondern als Mittel, um noch einmal dieselbe Reaktion zu bekommen.
Kinder, die für ihre Hilfsbereitschaft Lob erfahren, scheinen in Zukunft weniger großzügig und mitfühlend zu sein. Belohnen funktioniert, aber nur kurzfristig, und irgendwann haben wir dann Menschen, die bei jeder Bitte erst einmal die Gegenfrage stellen: Und was bekomme ich dafür?
Vor allem Jesper Juul, der renommierte dänische Familientherapeut, klärte in Büchern wie „Dein kompetentes Kind“ darüber auf, dass Kinder von Natur aus kooperativ sind „Kinder wollen kooperieren, wenn sie dies nicht tun, liegt es oft daran, dass ihre Integrität verletzt oder ihre Kooperationsbereitschaft überstrapaziert wurde. Es geschieht niemals, weil sie nicht kooperieren wollen“, schreibt Juul.
Verstecktes Strafen – wollen wir das wirklich?
Bieten wir Kindern Belohnungen an für Aufgaben, kann das sogar ihr Selbstwertgefühl schädigen. Belohnungen können wie eine subtile Misstrauenserklärung wirken und Kindern suggerieren, dass wir ihnen nicht zutrauen, von sich aus kooperativ oder verantwortungsbewusst zu handeln. Bei den Kindern kommt an, dass sie sich unsere Liebe und Anerkennung verdienen müssen.
Alfie Kohn beschreibt Belohnungen als „Kontrolle mit Zuckerguss“ und warnt: Wenn Kinder daran gewöhnt sind, für bestimmtes Verhalten gelobt oder belohnt zu werden, können sie das Ausbleiben dieser Anerkennung auch als Ablehnung oder Versagen interpretieren.
In der Folge entwickeln Kinder Ängste, schämen sich und fühlen sich unzulänglich. Hier zeigt sich, dass Belohnung oder Bestrafung letztlich zwei Seiten einer Medaille sind.
Darum ist es so wichtig, als Eltern die Perspektive wechseln zu können und sich gelegentlich zu fragen: Wie wirkt das, was ich gerade getan habe, auf mein Kind? Kinder müssen wissen und spüren, dass wir stolz auf sie sind, selbst wenn sie Fehler machen. Alfie Kohn ist überzeugt: So reifen sie viel eher zu eigenständigen, selbstbewussten und glücklichen Menschen heran.
Kinder brauchen authentische Beziehungen
Aber wie schafft man es denn nun, dass die Kinder intrinsisch motiviert das Zimmer aufräumen? Ich frage meine Siebenjährige, was ich anderes machen könnte, damit sie aufräumt. „Einfach lieb fragen und mir dabei ein bisschen helfen“, sagt sie schulterzuckend.
Die Zehnjährige erkennt den Sinn des regelmäßigen Aufräumens erst, wenn das Chaos schon ziemlich massiv und das Aufräumen dementsprechend frustrierend ist. Aber auch das ist dann ein Learning und sorgt für die intrinsische Motivation.
Alfie Kohn meint, dass Eltern vor allem den Wert der Aufgabe selbst vermitteln müssen – wann und wie es jedoch stattfindet, das kann man in der Familie verhandeln. Kinder sollten einbezogen werden, findet Jesper Juul. „Das Konzept von Belohnung und Bestrafung herauszufordern, bedeutet, sich zu fragen: Warum gibt es diese Dinge immer noch?
Wer profitiert davon? Wir geben vor, wegen unserer Kinder zu solchen Maßnahmen zu greifen, aber in Wahrheit tun wir es für uns selbst“, sagt Kohn. Am Anfang steht eine achtsame und respektvolle Haltung dem Kind gegenüber, wie sie die moderne bedürfnis- und beziehungsorientierte Pädagogik vermittelt.
Jesper Juul spricht von einer Beziehung auf Augenhöhe und erfindet dafür den Begriff „Gleichwürdigkeit“. Er versteht darunter, dass die Würde und inneren Realitäten der Kinder genauso geachtet werden wie die von Erwachsenen. Eltern schädigen ihre Beziehung zum Kind, wenn ihre Macht und Überlegenheit über Belohnungssysteme demonstrieren, sagt Juul.
Ich musste erst lernen, wie genau man Wertschätzung ausdrücken kann, ohne auf Lob zurückzugreifen. Wenn mein Kind beispielsweise mit einem selbst gemalten Bild zu mir kommt, sage ich „Wow, das sind wunderschöne Farben, die du da gewählt hast!“ oder „Ich sehe, dass du dir richtig viel Mühe gegeben hast.“
Wertschätzung braucht Präsenz und Aufmerksamkeit. Um unsere Liebe zu zeigen und Bewertungen sowie Manipulationen hinter uns zu lassen, müssen wir uns in den entscheidenden Momenten bewusst mit dem Kind verbinden, innehalten und genau hinsehen und -spüren.
Das ist Arbeit und in einem stressigen Familienalltag oft viel herausfordernder als ein schnelles Lob.
Aber wir werden dann mit einer authentischen Beziehung und der Aussicht auf motivierte und zufriedene Kinder belohnt.