Mehr Empathie durch VR
Mit Hilfe von Virtual Reality kann man Situationen anderer hautnah miterleben. Ines Eckermann sprach mit einem Filmemacher, der auf VR-Dokus spezialisiert ist. Er ist überzeugt: “Wir brauchen persönliche Geschichten, um wirklich zu fühlen und z.B. historische Ereignisse lebendig werden zu lassen.”
Sie hilft Museumsbesuchenden dabei, in vergangene Zeiten einzutauchen. Ermöglicht es Unternehmen, Mitarbeitende zu schulen, auch wenn diese sich auf der anderen Seite der Welt befinden. Und sie macht aus einem einfachen Video-Spiel nahezu realistisches Abenteuer. Virtual Reality (VR) ist längst viel mehr als eine Spielerei der Unterhaltungsindustrie. Nun fragt sich auch die Psychologie: Kann uns VR vielleicht sogar beim Fühlen helfen?
Virtual Reality (VR) – was ist das eigentlich? VR ist eine Technologie, die es ermöglicht, in digitale Welten einzutauchen und diese fast wie in der realen Welt zu erleben. Mit speziellen Brillen, sogenannten VR-Headsets, können Menschen interaktive 3D-Umgebungen betreten.
Die Technologie ermöglicht es, in Videospiele oder Filme einzutauchen. Statt wie früher bloß Zuschauer zu sein, können wir uns mit einer VR-Brille in der virtuellen Welt bewegen: Wenn wir den Kopf nach rechts drehen oder einen Schritt nach vorne gehen, bewegen wir uns auch in der virtuellen Welt und sehen einen anderen Ausschnitt – genau wie in der realen Welt.
Zunehmend ermöglichen auch Museen ihren Besuchenden, an Führungen durch vergangene Kulturen oder zukünftige Szenarien teilzunehmen – alles durch die virtuelle Realität. Doch kann VR uns auch dabei helfen, Empathie zu lernen?
Wir brauchen Geschichten, um zu fühlen
Lange Zeit brachte vor allem die Unterhaltungsbranche die VR-Technologie voran. Doch VR hat längst Einzug in andere Bereiche gehalten. „Virtual Reality kann Menschen auf tiefere Weise miteinander verbinden“, sagt Darren Emerson.
Der britische Filmemacher gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet von VR-Dokumentationen. Er erklärt: „Sobald Geschichte nur noch aus Zahlen besteht, wird sie nicht mehr spürbar. Wir brauchen persönliche Geschichten, um wirklich zu fühlen.“
Emersons Arbeiten zeigen, wie VR die Emotionen und Empathie der Zuschauer anspricht. In seinem Film „Letters from Drancy“ konfrontiert er die Zuschauer nicht bloß mit Fakten über den Holocaust – er nimmt sie direkt mit ins Geschehen.
Mal beobachten die Zuschauer das Geschehen wie Passanten in der Szenerie, mal schlüpfen sie selbst in die Perspektive einer Hauptfigur und erleben die Umgebung durch ihre Augen: Sie sehen die Arme und Hände der Hauptfigur und sogar, wie ihr Atmen an der kalten Luft kondensiert. „Es fühlt sich an wie eine eigene Erinnerung“, erklärt Emerson.
Zahlen und Fakten reichen nicht, um etwas nachzuempfinden
Emersons US-amerikanischer Kollege Chris Milk war einer der ersten Filmemacher, der mit VR experimentierte. Er glaubt, dass wir mit VR in die Lage seien, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und ihre Erlebnisse fast hautnah nachzuempfinden. Deshalb prägte er den Begriff „Empathy Machine“ (Empathie-Maschine) für die VR-Brille.
Können wir uns mit der Brille wirklich die Gefühle anderer Menschen einfach um den Kopf schnallen? Wie viele andere aus der Branche sieht auch Emerson diesen Begriff kritisch: „Es geht für mich nicht nur um Empathie, sondern um Verbindung.“ Vor allem gehe es ihm aber darum, die abstrakten Themen verständlich darzustellen.
„Mit meinen Filmen erzähle ich persönliche Geschichten, das ist mir wichtig. Sobald die Geschichte anfängt, sich in reine Fakten und Zahlen zu verwandeln, wird sie nicht mehr spürbar. Die Zahlen der Toten oder der Klimawandel lassen sich zwar in Zahlen ausdrücken, aber diese sind einfach zu groß und zu abstrakt, um sie verstehen zu können. Wir können menschliches Erleben nachempfinden, wenn es etwas mit unseren Emotionen macht.“
Und mit Blick auf den Holocaust ergänzt Emerson: „Wenn die Menschen, die uns davon erzählen können, weg sind, werden sie zu Zahlen. Mit dieser Art von Filmen können wir das ändern.“ Mit „Letters from Drancy“ möchte er historische Situationen emotional nachvollziehbar machen, damit sie nicht zu reinen Zahlen und Fakten verkommen.
Erfahrung ist der beste Lehrmeister
Dass Zahlen und abstrakte historische Zusammenhänge nicht viel Einfluss auf unser emotionales Erleben haben, zeigen zahlreiche psychologische Untersuchungen. Viel effektiver sei es, wenn wir emotional involviert sind.
Der Psychologe Albert Bandurda glaubte, dass wir auch aus den Erfahrungen anderer lernen können. Er nannte das Lernen aus den Erzählungen anderer stellvertretende Erfahrung. Und schon Aristoteles glaubte, dass wir gar nicht selbst betroffen sein müssen, um aus einer Situation lernen zu können.
In seiner Dramentheorie erklärte er, dass die Nachahmung (mīmēsis) von Handlungen auf der Bühne ähnliche Effekte auf das Publikum haben kann, indem es von den positiven wie negativen Ergebnissen lernt. Die mīmēsis könne zu einer emotionalen Reinigung führen, der Katharsis.
Das sei uns möglich, da wir Menschen uns alle ähnlich seien und uns ineinander wiedererkennen würden. Deshalb können wir fremde Schicksale nachempfinden und aus ihnen etwas für unser eigenes Leben lernen.
Empathie lernen durch die Empathie-Maschine
Und genau hierin liegt die große Chance der VR-Erfahrungen: Während klassische Dokumentationen sich auf schlichte Fakten beziehen, versuchen Filmemacher wie Emerson vor allem das subjektive Erleben der Betroffenen darzustellen.
So ermöglichen derartige Filme sowohl Banduras stellvertretende Erfahrung als auch die Aristotelische Katharsis – denn die Filme sprechen unsere Emotionen und nicht nur unserem Verstand an. Wenn wir zudem selbst in die Szenerie eintauchen können, wird dieses Erleben nochmals verstärkt.
Mit VR können als Zuschauer im selben Raum wie die Handelnden stehen, oder wir schlüpfen gleich selbst in eine der Rollen im Film. Durch VR sind die Zuschauer nicht länger auf die Beobachterrolle zurückgeworfen. Und so lernen wir womöglich tatsächlich, andere Menschen besser zu verstehen.