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Meditation und Einsicht

Andreas Mang/photocase.de
Andreas Mang/photocase.de

Buddhistische Perspektive: Fred von Allmen

Es gibt unzählige Arten von Meditation: Sammlung und Einsicht sind die wichtigsten. Der Meditationslehrer Fred von Allmen erklärt, warum die Einsichtsmeditation so wichtig ist und wie sie geübt wird. Das Ziel ist, die Wirklichkeit als dynamischen Prozess zu erkennen und mehr innere Freiheit zu erlangen.

Viele Menschen setzen Meditation mit konzentrativer Meditation gleich. Doch alle Arten der Sammlungsmeditation sind darauf ausgerichtet, spezielle Zustände zu erreichen: innere Ruhe, Stille, Tiefe, ja sogar Zustände mystischer Art. Und dies sind gewiss wünschenswerte und heilende Wirkungen, allerdings sie sind begrenzt und flüchtig.

Tiefe Sammlung kann unerwünschte und Leiden schaffende Emotionen wie Begierde, Ärger, Hass, Eifer­sucht, Neid und Ähnliches temporär ausblenden, ja regelrecht verdrängen. Solange wie die Sammlung anhält, sind diese Emotionen nicht manifest. Aber wir sollten uns nicht täuschen: Sie sind weiterhin in unserem Geist zu Hause.

Wer diese schwierigen Emotionen in der Meditation immer wieder verdrängt, lernt nicht wirklich, ihnen unmittelbar zu begegnen und ins Auge zu blicken. Und so werden wir uns auch nicht von ihnen befreien.

Deshalb ist es so wichtig, eine weitere Art der Meditation zu üben, nämlich eine der verschiede­nen Formen der sog. Erkenntnis- oder Einsichts-Meditationen. Auf der Basis eines beruhigten, gesammelten Geist geht es erstens darum, die Funktionsweisen von Herz und Geist zu erforschen. Man sieht dann, wie man selbst immer wieder inneres Leiden schafft. Und genau dies ist auch der Schlüssel, das Leiden aufzugeben.

Zweitens setzt man den gesammelten und stetigen Geist ein, um die wahre Natur oder das eigent­liche Wesen der Dinge zu ergründen.

Herz und Geist erforschen

Wer in der Meditation tiefer in sich hineinschaut, versteht, wie er ständig auf jede seiner Erfahrungen – angenehme, unangenehme oder neutrale – reagiert – und zwar meistens in unheilsamer Art.

Auf Angenehmes reagieren wir mit Anhaften und Verlangen nach mehr, zum Beispiel angenehmen Berührun­gen, leckeren Geschmäckern, schönen Aussichten, wunderbaren Klänge, schmeichelnden Worten. Dabei sind nicht die angenehmen Erfahrungen das Problem, sondern dass das Verlangen danach. Denn dadurch sind wir unfrei.

Die Reaktionen auf Unangenehmeswie unangenehme Berührungen oder Schmerzen, fades Essen, hässliche Gegen­den, mühsame Mitmenschen, Kritik sind Aversion und Ablehnung in all ihren leidvollen Varianten wie Ärger, Wut und Hass. Das Unangenehme wird durch die aversiven Reaktionen meist verschlimmert.

Bei neutralen Erfahrungen, die ein Großteil unseres Lebens ausmachen, sind wir meist desinteressiert und gleichgültig.

Das klare Sehen und Verstehen dieses Sachverhalts ist das, was in der Erkenntnis- oder Einsichtsmeditation geübt wird. In dieser Meditation beginnen wir in der direkten Erfahrung unmittelbar zu sehen und zu verstehen, dass wir anders mit diesen Erfahrungen umgehen könnten – nämlich indem wir ihnen zunehmend mit heil­samen inneren Haltungen begegnen:

Mit Achtsamkeit und Interesse, statt mit Verblendung und Desinteresse.

Mit Gelassenheit und Güte, anstelle mit Aversion, Ärger und Hass.

Mit Nicht-Anhaften und Großzügigkeit, anstatt Verlangen und Festhalten.

Festhalten schafft Leiden

Ein Beispiel: In Bern, wo ich meine Jugend verbracht habe, gibt es einen Fluss, die Aare, mit einer starken Strömung. Einmal schwamm ich nahe des Ufers, als ich einen Ast erblickte, der ein wenig über dem Wasser hinausragte. Spielerisch packte ich das Holz mit beiden Händen.

Aber ich war nicht vorbereitet auf das, was dann geschah. Im Moment, wo ich mich festhielt, rauschte der Fluss in einer riesigen Welle über meinen Kopf hinweg. Der Druck war gewaltig, meine Badehose wurde weggerissen, und ich drohte zu ersaufen. Panik erfasste mich und ich klammerte mich mit doppelter Kraft an den Ast. Ein großer Fehler! Die Situation wurde dramatisch, als mir endlich der rettende Gedanke kam: Loslassen. Im nächsten Moment war der Spuk vorbei. Alles war wieder im Fluss.

Mit ein bisschen Erfahrung können wir lernen zu sehen – selbst im Gewühl des Alltags – wie Festhalten und Ablehnung uns unmittelbar Leiden schaffen, und erkennen, welche Eigenschaften wir in uns fördern und welche wir schwä­chen müssen.

Dies ist die eigentliche Praxis. Damit Transformation und Befreiung stattfinden, brauchen wir immer und immer wieder klares Sehen. Wir müssen kontinuierlich üben, tag­ein, tagaus. Das braucht außerordentlich viel Geduld und Ausdauer. Belo Nock ,der berühmte Zirkus-Clown, sagte dazu: „Mein Vater hat mir das Zirkusleben nie aufgezwungen. Er sagte nur, ich müsste es während 30 oder 40 Jahren ausprobieren“

In die Natur der Dinge schauen

Ein weiteres Ziel der Erkenntnis-Meditation ist es, die wahre Natur oder das eigentliche Wesen der Dinge zu erkennen: die Vergänglichkeit, Unzulänglichkeit und die Nicht-Selbstexistenz. Erst diese Einsichten erlauben uns, die Hindernisse des Geistes, die täuschenden und quälenden Emotionen ernsthaft zu schwä­chen und vielleicht sogar zu entwurzeln.

Dazu wäre die Sammlungsmeditation allein nicht in der Lage. Wir brauchen dazu die Erkenntnis-Meditation, wie sie in verschiedenen Schulen des Buddhismus geübt wird – sei es Vipassana, Mahamudra, Dzogchen oder entsprechender Formen des Zen – und in anderen Traditionen Indiens.

Erkenntnis-Meditation erfordert einen Geist, der durch die Sammlungsmeditation fokussiert, stabil und gleichzeitig beweglich ist. Das stabile achtsame Gewahrsein wird dem dynamischen Prozess der Moment-zu-Moment Erfahrung zugewendet. Dadurch wird Erkenntnis möglich – und zwar nicht nur als intellektuelles Verstehen, sondern als direkte Erfahrung.

In der Kombination von Sammlungs- und Einsichtsmeditation muss eine radikale Umstellung der Sichtweise, eine Art Erwachen stattfinden. Bisher hatten wir die Inhalte betrachtet: Welche Geisteseigenschaften und Absichten haben welche Wirkung, welche schaffen Leiden, welche bewirken Verbundenheit und Freiheit? Nun geht es darum, sich von den Inhalten zu lösen und das Wesen, die Natur all unserer Moment-zu-Moment-Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse zu erforschen.

Es ist vergleichbar mit dem Träumen und aus dem Traum aufzuwachen. Durch Sammlung können wir selbst ange­nehme Träume kreieren. Aber wir sind immer noch innerhalb des Traumes gefangen. In der Erkenntnis-Meditation geht es darum, aus dem Traum zu erwachen. Dies ist vergleichbar mit einem Regie-Assistenten am Theater, der lernt, sich nicht von einer Szenen fesseln zu lassen, sondern die Gesamtwirkung und die Auswirkun­gen auf das Publikum zu beobachten.

Das Leben als fließend wahrnehmen

Wenn wir nun in der Erkenntnis-Meditation die Dinge des Daseins näher betrachten, ohne uns um die spezifischen Inhalte zu kümmern, beginnen wir, ihre Natur des ständigen Wechsels, der Vergänglichkeit wahrzu­nehmen. Bisher war uns dies vielleicht in der äußeren Welt sichtbar: Im Wechsel der Jahres­zeiten, Tag und Nacht, Sonne und Regen, Jugend und Alter, eigentlich wo immer wir hinschauen.

Die Gedichte des wandernden Zen-Mönchs und Poeten Ryokan sind Momentaufnahmen flüchtiger Augenblicke dieses vergänglichen Lebens: „Tage zählen ist wie Finger schnippen – selbst der Mai vergeht wie ein Traum.“

In der Meditation beginnen wir, in der direkten Erfahrung den ständigen Wechsel, die Vergänglichkeit im Innern zu erkennen. Im Körper sehen wir die ständig wechselnden Empfindungen. Was sich an­fangs wie eine solide Körpererfahrung anfühlt, wird nach sorgfältigem, achtsamem Betrachten als vibrierender, oszillierender, sich ständig verändernder Prozess, als intensives Gewimmel von Emp­findungen, wahrgenommen.

Gefühle entstehen, werden mächtig, gehen in ein anderes Gefühl über, ver­flachen sich wieder, verschwinden, um dem nächsten Platz zu machen. Formen, Bilder, Klänge, Geräu­sche, Lärm, Stimmen, Geruch, Geschmack, Erwünschtes, Un­erwünschtes, Gefürchtetes, Ersehntes, alles erscheint und verschwindet wieder, entsprechend seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten – als Pro­zess abhängigen Entstehens und Vergehens.

Nicht ist verlässlich

Noch eine weitere Erkenntnis fördert die Einsichtsmeditation zutage: Was ständig wechselt, kann uns keine andauernde Befriedigung verschaffen, keine Sätti­gung, die bleibt. Unter den Dingen und Lebewesen des Univer­sums gibt es nichts, was auf die Dauer hält, gar nichts. Befriedigung ist sicherlich mög­lich – für einige Momente. Sie muss aber ständig neu beschafft werden, immer und immer wieder.

Haben wir Hunger, essen wir, bis wir genug haben. Dann müssen wir et­was trinken und fühlen wir uns befriedigt. Wie lange hält dies an? Ein paar Stunden? Oder nicht einmal?

Wir freuen uns das ganze Jahr auf die Ferien am Meer. Endlich sind wir dort und stürzen uns ins herrliche, erfrischende Wasser. Geschafft! Nun werden wir für immer in diesem erfrischenden Nass bleiben können. Oder zumindest während der ganzen Dauer unserer Ferien. Oder wird es vielleicht nach einer Weile doch zu kalt?

Wir brauchen Liebe, Zärtlichkeit, Kontakt. Wir finden uns, lieben uns. Aber kann das so bleiben? Das ‚Guinness Book of Records‘ berichtet vom längsten Kuss: rund 130 Stunden am Stück. Das müsste doch äußerst angenehm sein! Aber schon die Vorstellung davon fühlt sich nicht sehr verlockend an. Erfüllung, die bleibt, ist ein leerer, unrealistischer Wunschtraum – schlichtweg unmöglich. In diesem Sinne sind alle Erfahrungen des Daseins unzulänglich.

In der Erkenntnis-Meditation sehen wir dies unmittelbar. Und die Einsicht lehrt uns, nicht ständig auf die nächste Erfahrung hoffen zu müssen, die neuere, die bessere, die schnellere, die tiefere, die intensivere, die angeneh­mere. Vielmehr werden wir zunehmend frei von unrealistischen Erwartungen und sind mehr im Frie­den mit den Dingen, so wie sie gerade sind.

Das Selbst ist eine Täuschung

Weiter richten wir unsere Aufmerksamkeit in der Einsichtsmeditation auf die Erscheinungsweise des Ich. Wir fragen uns, ob etwas, das sich ständig bewegt, wandelt, entsteht und vergeht, substanziell existent sein kann, wie wir glauben. Wir sehen, dass all diese nur Erscheinungen, Spiegelungen sind, eine substanzlose, leere Show.

Die Meditation ermöglicht uns, dies mit der ganzen Fülle und Tiefe, mit der gesamten Skala unserer Erlebnismöglichkeiten zu erkennen. Der Buddha skizziert diese Grundwahrheit des Daseins so: „Betrachte so diese vergängliche Welt: wie einen Stern in der Morgendämmerung. Wie eine Blase in einem Fluss. Wie ein Wetterleuchten in einer Sommerwolke. Wie ein flackerndes Licht, ein Phantom, einen Traum.“

In der Meditation wird zuerst die Natur von Selbst‘, von Ich und Mein‘, ergründet. Je tiefer wir den komplexen, in Abhängigkeit entstehenden und vergehenden Lebensprozess verstehen, desto offensichtlicher wird, dass das Ich-Gefühl eine Täuschung ist. Die Vorstellung „Ich“ suggeriert auf fatale Weise, wir seien abgetrennt vom Leben. Wenn wir das durchschauen, erleben wir Momente, in denen wir die Verbundenheit mit dem Leben erfahren.

Sich selbst und das Leben als dynami­schen Prozess zu erkennen und zu verstehen, dass da gar kein Ich ist, welches dies alles erfährt, ist befreiend. Es befreit uns von den täuschenden und quälenden Geisteszuständen und Emotio­nen, mit denen das Ich alles innere Leiden erschafft.

Die Erfahrung der Verbundenheit erlaubt unserem Herzen, für Freude und Leid – auch das der ande­ren – offen zu bleiben. Liebe und Mitgefühl werden zu natürlichen Antriebskräften unseres Seins und Tuns und zur Quelle der ethischen Integrität. Daraus fließt ganz natürlich ein Verhalten der Gewaltlosigkeit, Ehrlichkeit und Verantwortlichkeit in unserem Tun.

Verbundenheit und Mitgefühl bewirken eine Ausrichtung auf das Wohlergehen vieler (sich selbst immer mit eingeschlossen). Die altruistische Haltung, zum Wohl aller leben und wirken zu wollen, wird mehr und mehr zu unserer natürlichen Seinsweise. Wie es die spirituelle Lehrerin Toni Packer ausdrückte:

„Staune und Lausche

Das Aufkeimen und Erblühen von Verständnis, Liebe und Weisheit geschieht von selbst,

wenn ein Mensch forscht, neugierig ist, ergründet, schaut und horcht,

ohne in Angst, Lust oder Schmerz hängen zu bleiben.

Wenn die Ichbezogenheit ausgedient hat und verstummt ist,

dann sind Himmel und Erde offen.“

(Toni Packer, The Work of this Moment, from The Buddha is Still Teaching, edited by Jack Kornfield, Shambala 2010.)

 

Die Meditation ist auch Thema im Weisheitstraining vom Netzwerk Ethik heute

 

 

 

 

 

 

 

Fred von Allmen ist Meditationslehrer. Er war einer der ersten Schweizer Lehrer der Vipassana-Meditation und hat das Meditationszentrum Beatenberg mitbegründet, Autor zahlreicher Bücher zur buddhistischen Praxis.

Weitere Beiträge zur Meditation von Fred von Allmen:

Wozu meditieren?

Die Meditation der Sammlung

Ethik und Meditation

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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1 Kommentar
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Alle Kommentare

Liebe Autoren,
sehr gut verständlicher Einstiegstext zu “mindfulness”.
Für ein weitergehendes Verständnis würde ich empfehlen, über die
3 Daseinsmerkmale Anicca, Dukkha, Anatta und den 8-gliedrigen Pfad des
Theravada nachzulesen.
Auch ein Verständnis, wie sich die Persönlichkeit zusammensetzt
(5 Skandhas) ist hilfreich bzw. notwendig.
Vielen Dank für das Posting!
Markus

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