Wie wir wieder Grenzen achten
Höflichkeit, Respekt, Rücksicht – diese Eigenschaften gelten heute vielen als antiquiert. Der Philosoph Martin Scherer wünscht sich mehr Takt im Umgang miteinander. Damit will er der Egomanie etwas entgegensetzen und wirbt für ein wenig mehr Distanz zum anderen, um Grenzen zu achten und ihn nicht zu verletzen.
Text: Heidemarie Bennent-Vahle
Ein kleines Buch, das es in sich hat! Es könnte uns für einen notwendigen Wandel sensibilisieren. Weit in die Geschichte zurückblickend verweist es auf dringende Erfordernisse der Zukunft. Hier wirbt ein Autor für alte Kulturtechniken wie Höflichkeit, Respekt und umsichtiges Abstandhalten.
Damit richtet er sich sowohl gegen den heute angesagten Kult indiskreter Authentizität als auch gegen einen gnadenlosen Moralismus, der aktuell en vogue ist.
Der ungehemmten Offenheit, die andere geradeheraus mit ‚Klartext‘ konfrontiert, setzt er ein feinsinniges Ethos des Taktes und der Distanznahme entgegen. Gleichwohl Scherer jede Form moralischer Rigorosität ablehnt, wird ein ethisches Anliegen dennoch spürbar. Und dies trägt letztlich sein Plädoyer für den schönen Schein anachronistisch erscheinender Geselligkeitsformen.
Es gilt, besseren Zeiten zuzuarbeiten, in denen diskrete Schonung — der taktvolle Umgang mit den Schwächen und Blößen anderer — neue Räume für zwischenmenschliche Begegnungen zu öffnen vermag: „Das Wahren der Distanz erzeugt erst eine Sehschärfe für das Fremde.“
Weder moralinsaure Verbissenheit noch investigative Zudringlichkeit ermöglichen echte Berührung. Einzig im Klima milder Zurückhaltung vermag Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber zu gedeihen.
Deshalb ist eine Person, die im galanten Umgang den schönen Schein zu wahren sucht, keinesfalls als Lügnerin anzusehen. Indem sie Übergriffigkeit und das oftmals plumpe Spiel des Psychologisierens meidet, signalisiert sie die Bereitschaft, Andersheit wahrzunehmen und auszuhalten.
Takt, den Scherer mit Proust als „Melange aus Einsicht und Gefühl, Reflexion und Zartheit“ bezeichnet, trägt der unaufhebbaren Schwäche, Fehlbarkeit und Schamanfälligkeit des Menschlichen Rechnung, ohne vom Streben nach Vervollkommnung abzulassen. Oberstes Merkmal des Taktvollen ist Selbstrelativierung im Abrücken von letzten Wahrheiten oder universalistischen Geltungsansprüchen.
Um die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz wissend, verkennt er keinesfalls die Gefahren allgegenwärtiger menschlicher Eitelkeiten. Damit tritt er dem entgegen, was heute dominiert, der Neigung nämlich, sich selbst maximal ernst zu nehmen, — voyeuristisch und zudringlich — „als halbstarkes Ich“ zu agieren, das hauptsächlich um sich schlägt.
Mit mehr Selbstdistanz
In dem nur 112 Seiten umfassenden Bändchen gelingt es Scherer in beeindruckender Weise, für Takt, Höflichkeit, Gastfreundschaft, milde Zurückhaltung und Vortritt-Lassen zu werben. Er bereichert sein Anliegen, indem er einige Höflichkeitslehren vergangener Epochen vorstellt und näher expliziert.
So nennt er etwa Baldassare Castigliones Buch vom Hofmann aus dem Jahr 1528 oder auch Balthasar Graciáns Handorakel von 1647, das schon früh gleichsam zu einem Bestseller wurde. Beide Bücher vermitteln den Zauber wohldurchdachter Umgangsformen; sie proklamieren eine lässige unaufdringliche Eleganz im sozialen Miteinander, einen Habitus, der eine Sphäre zwischen Ethik und Ästhetik zu kultivieren versteht.
Erkennbar wird auch die besondere Relevanz des Rituals, „welches eine Selbstdistanz erzeugt und die Akteure von der psychologisierenden Eigenbeschau zumindest befristet befreit.“
Weitere Autorinnen und Autoren werden einbezogen: Neben David Hume, der den hohen Wert von Freundlichkeit, Güte, Dankbarkeit und Fairness herausstellt, wären u.a. der Jurist Rudolf von Jhering zu nennen, ebenso Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Ernst Bloch und Helmuth Plessner, der — den Gemeinschaftsidolen des aufkommenden Nationalsozialismus entgegenwirkend — ein „Ethos der Grazie“ und eine „Logik der Diplomatie“ im Dienste der Schonung des Einzelnen entfaltet.
Aus jüngerer Vergangenheit führt Scherer die Sängerin Hildegard Knef an sowie auch die Philosophin Anne Dufourmentelle, die über die Macht der Sanftmut nachdenkt. Während Höflichkeit den „inneren Barbaren“ zähmt und — dem Recht vergleichbar — im öffentlichen Raum regulierend wirkt, gedeihen Freundlichkeit, Takt und Sanftmut vor allem da, wo Menschen in direkten Kontakt treten und einander ins Gesicht blicken.
Der Band gibt unzählige Denkimpulse — höchst relevant für ein Zeitalter anonymer Netzkontakte, in dem das Agieren „hyperkommunikativer Ego-Sender“ der Rohheit unendlichen Raum gewährt. Ein ‚Wir‘ scheint es in der Informationsgesellschaft nurmehr dann zu geben, „wenn zur Treibjagd auf die falsche Meinung geblasen wird“.
Hier sollte Scherers Buch gewissermaßen zur Pflichtlektüre werden. Zuvorderst sei es all jenen empfohlen, denen angesichts derartiger Phänomene zunehmend unwohl wird, denjenigen, die die Zerbrechlichkeit des Humanen umtreibt, die im Blick auf die siegesgewisse Zudringlichkeit vorschnellen Psychologisierens standhaft das Unsagbare und Unergründliche der menschlichen Seele zu verteidigen suchen.
Es lohnt sich mit Scherer zu erkennen, dass Takt – wohlverstanden — keinesfalls ein bloßer Habitus ist, sondern ein tiefes Bekenntnis zur Diskretion, welches gleichsam wie eine Tugend die gesamte Persönlichkeit durchströmt.
Martin Scherer. Takt — Über Nähe und Distanz im menschlichen Umgang. Klampen Verlag 2024.