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Meine Jungs

unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Hilfe für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge

Die sozial engagierte Studentin Magdalena fühlt sich durch die Arbeit mit unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen menschlich bereichert. Sie berichtet über ihre Kontakte mit den teils schwer traumatisierten Jugendlichen, gemeinsame Freizeit und manchmal schwierige Diskussionen.
Sie nennen mich „Bruder“ und ich nenne sie „meine Jungs“. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem ich mich nicht darauf gefreut hätte, zu ihnen zu gehen. Wer sind meine Jungs? Das sind Jungen, von denen manche lieber, manche weniger gern in die Schule gehen, die Liebeskummer haben, Fifa zocken und zum großen Teil Cristiano Ronaldo vergöttern. Und die Krieg, Gewalt, Terror, Tod, Trauer, Angst, Vertreibung durchlebten. Die Flucht, Grenzübergänge und die Überquerung von Wüste, Meer, Flüssen, Bergen überlebten. Die zerrissene Familien, Heimweh, Sehnsucht, Ungewissheit erleben.
Sie werden in der Fachsprache „umFs“ genannt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Das bedeutet, dass sie ohne Eltern nach Deutschland gekommen sind und zur Ankunftszeit noch nicht volljährig waren. Es sind fast nur Jungen, da die Familien meist den „Stärksten“ losschicken und das Geld für den Schlepper nur für einen reicht.

Büffeln im Münchner Wohnheim und somalisches Essen

Einmal pro Woche besuche ich ein teilstationär betreutes Wohnheim im Münchner Süden, in dem 20 junge Männer leben, die aus Somalia, Afghanistan, dem Iran, Nigeria, Syrien und Gambia geflohen sind. Dort gebe ich dem 18-jährigen Salah Nachhilfe in Deutsch und Mathe.
Bei shaah iyo caano (somalisch für Schwarztee mit Milch und sehr viel Zucker) büffeln wir ein bis zwei Stunden, wie man unechte Brüche in gemischte umwandelt oder wie man temporale Nebensätze bildet. Nebenbei lerne ich somalische Ausdrücke und somalisches Essen kennen. Wir unterhalten uns, wir diskutieren tiefgründig über Gott und die Welt, wir lachen, und spätabends werde ich jedes Mal den 10-minütigen Weg zur S-Bahn begleitet.
Mit der Zeit wurde aus dem Nachhilfegeben mehr als nur ein Job. Ich habe meine Jungs zu mir nach Hause eingeladen. Sie haben meine Familie, meine Freunde kennengelernt, und sie sind bald schon Stammgäste bei den Bar-Abenden in meinem Studentenwohnheim. Manche fingen von selbst an, von früher, ihren Familien, ihren Fluchtgeschichten, (Alb-)Träumen, Hoffnungen und Wünschen zu erzählen.

Von Albträumen und Zukunftswünschen

So wie Salah, der nicht nur einen Wunsch für die Zukunft hat, sondern viele. Wenn alles möglich wäre, würde er als erstes nach Somalia zurückzukehren. Und er würde gern Präsident werden. Dann, zählt er weiter auf, möchte er sich zu einer guten Person entwickeln und einmal ein schönes Leben haben, mit Familie, Frau, Kindern.
Jetzt wird er konkreter: Nach dem bevorstehenden Quali eine Ausbildung beginnen, am liebsten als Krankenpfleger, einen guten Job finden. Denn so, wie ihm geholfen wurde, will er auch einmal anderen Leuten helfen können. Sein Deutsch verbessern, neue Leute und Deutschland mit seiner Kultur kennenlernen. Selbständig werden. Und schließlich eine gute Freundin finden. Das alles wünscht er sich für seine Zukunft.
Als ich ihn frage, ob er auch etwas über seine Vergangenheit erzählen möchte, zögert er. Dann meint er, dass er darüber lieber nicht redet, da er so viele schlechte Erinnerungen habe. Einzelne Sätze kommen aber dann doch über seine Lippen. Die Flucht sei schwer gewesen. 10 Monate von Somalia nach Libyen. Drei Wochen zu Fuß in der Wüste, irgendwo zwischen Khartum im Sudan und Tripolis in Libyen.
„Da gab es keine Blumen, kein Essen, kein Wasser. Es war so heiß, dass man nicht auf dem Boden sitzen konnte. Und wir hatten keinen Regenschirm als Schutz vor der Sonne.“ Dann ein Jahr Gefängnis in Libyen. Boot, Meer, Italien. „Es war schlimm. Nicht gut.“ Und er sagt: „Ich hatte keine Freiheit. Deswegen bin ich hierher gekommen. Ich finde es toll, dass ich hier bin, weil ich hier frei bin.“
Salah wuchs in den somalischen Städten Beledweyne und Mogadischu auf. Er sei der einzige aus seiner näheren Umgebung gewesen, der weggegangen sei. Damals habe er nichts von Europa, Afrika oder Amerika gewusst. Andere Sprachen, Religionen und Länder habe er erst auf dem Weg hierher kennengelernt. Seit Januar 2014 wohnt er in München.
Sein Smartphone vibriert. „Darf ich schnell hingehen? Meine Schwester ruft aus Somalia an.“ Er tauscht mit ihr paar Sätze auf Somalisch aus, dann legt er auf und meint: „Ich vermisse meine Familie.“ Er hat drei Schwestern und einen Bruder, er ist der Älteste. Er zeigt mir ein Bild von seiner kleinsten, einjährigen Schwester, die er noch nicht kennenlernen konnte. „Oh, Schwester!“ Er küsst das Foto.

Schwieriger Dialog über Homosexualität

Die Beziehung zu den Jungs ist nicht immer leicht. Kein „Friede, Freude, Eierkuchen“, wenn verschiedene Kulturen sich begegnen. Verbindliche Zusagen, Pünktlichkeit, Planen im Voraus? Fehlanzeige. Jemand, der in seinem Heimatland und auf der Flucht ums Überleben kämpfen musste, war gezwungen, lediglich daran zu denken, wie er den morgigen Tag überleben kann.
Und manchmal kommt es auch zu Situationen, in denen meine Vorstellung und die meines Gegenübers aufeinandertreffen und es so scheint, als würden wir keinen Konsens finden. Das macht mich manchmal richtig traurig und ich fühle mich hilflos, weil scheinbar alle Erklärungen nichts nützen.
Zum Beispiel ist Homosexualität so ein Thema. Dabei muss die Religionszugehörigkeit keinen Unterschied machen. Ein Christ aus Nigeria und ein Moslem aus Gambia waren sich in einer Diskussion ziemlich einig, dass schwul oder lesbisch sein eine Sünde sei. Schließlich stehe das so auch in der Bibel beziehungsweise im Koran. Alle meine Argumente, wie z.B. dass es auf den Charakter eines Menschen und nicht auf seine sexuelle Orientierung ankommt, oder dass Gott doch alle Menschen liebt, prallten an ihnen ab.
Mir fällt es schwer, bei solchen Diskussionen gelassen zu bleiben. Der eine kam aber danach zu mir und bat mich, nicht wütend auf ihn zu sein. Er habe Angst, mich als Freundin und gute Gesprächspartnerin zu verlieren. Er meinte, dass er in einem anderen Kontinent, mit einer anderen Kultur aufgewachsen sei und es ihm schwer falle, sich mit manchen Dingen anzufreunden. Aber er vertraue mir und deshalb könne er mit mir über so etwas reden.
Ich war unheimlich froh über diese ehrliche und, wie ich finde, sehr reflektierte Aussage. Ich versicherte ihm, dass ich nicht böse auf ihn sei. Aber er müsse mich auch verstehen, weil ich eben hier in diesem Kontinent, mit der hiesigen Kultur aufgewachsen sei und dementsprechend Schwierigkeiten habe, seine Sichtweise zu verstehen.

Denkweisen können sich verändern

Ich glaube an das Gute im Menschen und auch daran, dass sich Denkweisen (auch die meine!) ändern können. Meiner Meinung nach ist es wichtig, viel zu diskutieren, geduldig zu sein und sich zu fragen, wie es zu bestimmten Weltansichten (auch zu den unsrigen) kommt. Wie soll einer, der in einem Land aufgewachsen ist, in dem Homosexualität ein Tabuthema ist und mit dem Tod bestraft wird, diese von heute auf morgen ‚normal‘ finden können?
Fakt ist, dass mir das Zusammensein mit den Jungs großen Spaß macht. Das Voneinanderlernen sehe ich als eine kulturelle, sprachliche und vor allem menschliche Bereicherung für mein Leben an. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen ebenso gute Erfahrungen machen und viel Freude dabei haben.
Und eine nette Begebenheit zum Schluss: Letztens standen wir zusammen vor einem Club an. Der Türsteher war aus einem unersichtlichen Grund gerade dabei, meine Begleitung, fünf Jungs, abzuweisen. „Die gehören zu mir, das sind alles meine Jungs“, sagte ich zu ihm. „Oh, da haste aber was zu tun!“, entgegnete der Türsteher lachend. „Nein, die sind alle ganz ok“, versicherte ich und überzeugte ihn – er winkte sie durch, und meine Jungs und ich tanzten bis in die Morgenstunden.
Magdalena Doepke
Magdalena Doepke, Studentin, ist 23 Jahre alt und wohnt in München. Nach ihrem Bachelorabschluss des Studiums Naher und Mittlerer Osten studiert sie derzeit im 3. Semester Soziale-Arbeit. Seit zwei Jahren gibt sie unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ehrenamtlich Nachhilfe.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Wunderbar, diese unaufgeregte Freundlichkeit gegenüber der Vielfalt, die Menschen und Kulturen füreinander bereithalten. Von dieser Mischung aus Fröhlichkeit, Selbstbewusstsein, Offenheit und Gelassenheit sollten wir mehr haben. Danke Magdalena.

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