Buch einer Psychoanalytikerin
Gefühle gehören zum Menschen genauso wie die Vernunft. Die Psychoanalytikerin untersucht in ihrem Buch menschliche Grundgefühle: solche, die wir abwehren wie Angst und Scham; andere, mit denen wir uns auflehnen wie Ekel und Verzweiflung; sowie Gefühle, die das menschliche Leiden lindern wie Liebe und Vertrauen.
Erst jetzt habe ich dieses Buch entdeckt — eine enorm bereichernde Lektüre. Wer das komplexe Seelenleben des Menschen ergründen will, sollte es lesen. Holzhey-Kunz — eine renommierte, vielseitig geschulte Psychoanalytikerin — präsentiert in eingängigen Analysen die Kerngedanken ihrer langjährigen Auslotung der menschlichen Emotionalität.
Im Fokus stehen ‚emotionale Wahrheiten‘ wie Grundformen der Angst, Schuld und Scham als herausfordernde Seinsweisen, „die dem Menschen unverstellt enthüllen, was es heißt, ein Mensch zu sein, und ihm dadurch eine philosophische Erfahrung vermitteln.“
Da dieses existenzielle Erleben höchst belastend wirkt, provoziert es oftmals emotionale Gegenreaktionen, die das menschliche Miteinander mit Negativität erfüllen. So stoßen wir in Ekel, Neid und Verzweiflung die Nichtigkeit, Ungerechtigkeit und Hinfälligkeit unserer Existenz von uns.
Eine mögliche prosoziale Antwort auf die bedrängende Schwere des Seins liegt hingegen in Liebe, Vertrauen und Sympathie. Doch auch hier lauert die Gefahr emotionaler Täuschungen, gelenkt durch „den ontologischen Wunsch, von der beängstigenden Wahrheit der Vereinzelung erlöst zu werden.“
Kollektive Flucht vor der Angst
Zentral im Buch ist der Begriff ‚existenzieller Hellhörigkeit‘, der eine besondere emotionale Empfänglichkeit einiger Menschen für die Grundwahrheiten der Existenz bezeichnet. Bedrängt von dunkel gefühlten Wahrheiten, leiden Betroffene nachdrücklich am eigenen Sein.
Doch Hellhörigkeit ist — so die Autorin — kein Defizit, vielmehr eine spezifische Begabung. Sie ist nicht als Symptom psychischer Krankheit zu sehen, sondern signalisiert eine ausgeprägte Sensibilität für die Gegebenheiten des menschlichen Lebens.
Es ist mithin eine Kategorie, über die Holzhey-Kunz die Pathologisierung emotional belasteter Menschen ‚zurückfährt‘. Dies tut sie nicht zuletzt auch, indem sie bekennt, sich diesen Menschen als Therapeutin zugehörig zu fühlen. Sie teile mit ihnen, so heißt es, das Los, der conditio humana unterworfen zu sein und sich im Grunde ihres Seins zu ängstigen.
Diese Sicht transportiert zudem subtile Kritik an allen eifrig-ambitionierten philosophischen Vorstößen, die Welt verstehbar zu machen. Ein solcher Anspruch entspringe zumeist „nicht der Liebe zur Weisheit, sondern dem vorherrschenden Verlangen des Menschen nach Sicherheit durch Sinnorientierung.“ Wer an Angst leide, stehe in einem wachen Verhältnis zum eigenen Menschsein und partizipiere nicht „an der kollektiven Flucht vor der Angst ins Verstehen“.
Philosophische Anthropologien antworten deutend auf eine Welt, die uns primär emotional zugänglich wird. Bevor wir kognitive Fähigkeiten ausprägen, Sinnkonzepte entwickeln und das tätige Leben gemäß den Regeln praktischer Vernunft gestalten, erfahren wir unsere Situation als fühlende Wesen.
Unentrinnbar sind wir primären Erfahrungsweisen ausgesetzt, die prinzipiell alle Personen betreffen. Universelle Erlebensqualitäten durchtönen das menschliche Sein, wenn auch Gesellschaften und Kulturen ganz unterschiedlich daran anknüpfen mögen.
Gefühle gehören genauso zum Selbstverständnis wie die Vernunft
Mit Heidegger und anderen Philosophen nimmt die Autorin begriffliche Klärungen vor: Das basale ‚ontologische‘ Verständnis der Angst wird gegen die ‚ontische‘ Emotion der Furcht abgegrenzt.
Während Furcht auf ein konkretes innerweltliches Phänomen, z.B. akute Bedrohung, gerichtet ist, tritt in der Angst die nackte Faktizität des Seins entgegen, das uns unausweichlich zur Freiheit herausfordert und der Sterblichkeit überantwortet. Stets sind wir gezwungen, Entscheidungen zu treffen, ohne je wissen zu können, „ob die im Moment favorisierte Wahl auch halten kann, was wir von ihr erhofften.“
Die Unterscheidung zwischen der ontischen und ontologischen Dimension betrifft ebenso das Erleben von Scham und Schuld: Auf der ontologischen Ebene schämen wir uns nicht für irgendein konkretes Unvermögen, sondern im Grunde wegen ‚Nichts‘. Wir erleben uns als exponiert, als unumgänglich in den Blicken anderer stehend, deren Urteil uns entzogen bleibt.
In der ontologischen Schuld manifestiert sich keine nachweisliche Verletzung etablierter zwischenmenschlicher Standards, die man auch hätte einhalten können. Es geht vielmehr um unvermeidbare Schuld, weil jede Entscheidung andere Möglichkeiten ausschlägt, Chancen der Verwirklichung nimmt. Über Wirklichkeit verfügend vollziehen wir Selbstermächtigungsakte, die ontologisch als Schuld erlebt werden.
Diese Negativerfahrungen sind Ausdruck eines nachmetaphysischen Weltverstehens. Fehlt eine höhere bergende und legitimierende Instanz, so ist jede nachdrückliche Selbstbejahung und Durchsetzung eigener Maßstäbe von subtil wirkenden Irritationen begleitet, woraus reflexartig Ekel, Neid und Verzweiflung erwachsen.
Auswege erblickt das Buch in Formen zwischenmenschlicher Zuwendung und Solidarität, wobei insbesondere das entfaltete Konzept ‚echter‘ Sympathie Zustimmung erfährt.
Es ist ein überaus lesenswertes Buch: Weit davon entfernt, Aufklärung und Vernunftdenken zu verabschieden, zeigt es überzeugend auf, dass vorrationale, gefühlsbestimmte Erfahrungsweisen zu berücksichtigen sind, wenn wir tatsächlich zu einem aufrichtigen Selbstverständnis und dementsprechend zu einer adäquaten Handhabung unserer vernunftmäßigen Anlagen gelangen wollen.
Heidemarie Bennent-Vahle
Alice Holzhey-Kunz: Emotionale Wahrheit. Der philosophische Gehalt emotionaler Erfahrungen. Schwabe Verlagsgruppe 2020