Muss ich meine Geschwister lieben?

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Kolumne Beziehungsdynamiken

Autorin und Familientherapeutin Mona Kino beantwortet in ihrer Kolumne “Beziehungsdynamiken verstehen” eine Frage zum Thema Geschwisterliebe: „Ich verspüre keine so enge Bindung an meinem Bruder. Ist es wirklich notwendig, dass ich ihn liebe?“

Frage: Die Geschwister gehören zu den wenigen Menschen, die uns in der Regel das ganze Leben begleiten und die uns am besten kennen. Trotzdem verspüre ich keine so enge Bindung an meinen Bruder. Ist es wirklich notwendig, ihn zu lieben? Wie wichtig ist diese biologische Verbindung, muss ich sie pflegen?

Mona Kino: Die romantische Idee, dass Geschwister sich ein Leben lang lieben und eng verbunden bleiben, klingt nett, aber woher kommt sie eigentlich? In unserer westlichen Kultur wird die Geschwisterliebe als selbstverständlich angesehen.

Religionen, Mythen und Geschichten aller Art erzählen uns seit Ewigkeiten, dass die Familie das Fundament des eigenen Lebens und der Gesellschaft ist – allen voran die Geschwister. Im Christentum wird die Familie fast schon heilig gesprochen. Die Griechen hatten ihre Göttergeschwister, die sich zwar auch regelmäßig bekämpften, aber am Ende immer zusammen waren.

Auch im Zuge von Aufklärung und Romantik war das Bild der idealen Familie allgegenwärtig. Geschwister sollten sich gegenseitig stützen, das Leben zusammen meistern und am besten auch im Alter gemeinsam den Alltag bestreiten. Klingt schön, oder? Dieses Ideal hat sich in den Köpfen festgesetzt – bis heute.

Aber jetzt mal ehrlich: In der Realität? Da läuft das oft ganz anders, zumindest bei uns im Westen, wo der Individualismus stark ausgeprägt ist. Geschwister entwickeln sich oft total verschieden. Der eine macht Karriere, die andere zieht sich aufs Land zurück.

Was früher eine enge Beziehung war, kann im Laufe der Jahre ganz schön abkühlen. Man lebt sich auseinander, die Interessen sind nicht mehr dieselben, und plötzlich hat man mit der eigenen Schwester, dem Bruder weniger gemeinsam als mit der netten Nachbarin.

Beziehungen sollten auf Freiwilligkeit beruhen

Ein großer Teil des Problems liegt oft Zuhause. Wer kennt das nicht? Ungleichbehandlung oder „Lieblingskind“-Status – und plötzlich werden Geschwister zu Konkurrenten, ob sie wollen oder nicht. Das zieht sich oft bis ins Erwachsenenalter, besonders bei so schönen Themen wie Geldgeschenke oder Testamentsregelungen.

Und dann sind da noch die äußeren Lebensumstände: Man lebt in verschiedenen Städten oder gar Ländern, hat ganz andere Prioritäten, politische Überzeugungen oder Lebensentwürfe. Klar, dass da die emotionale Nähe verloren gehen kann.

Und wenn man sich auch noch mit einer schweren Kindheit herumschlagen musste, können diese Wunden richtig tief gehen. Unterschiedliche Bewältigungsstrategien führen dazu, dass Geschwister sich nicht mehr verstehen. Irgendwann haben sie nicht nur das Gefühl, sie hätten völlig verschiedene Leben geführt, sie haben es tatsächlich.

Muss man also seine Geschwister zwangsläufig lieben? Nein. Ich denke, Beziehungen sollten auf Freiwilligkeit beruhen, nicht auf der Biologie. Geschwisterliebe kann schön sein, keine Frage. Sie sind die Zeugen deiner Kindheit. Sie wissen, wie dein Zimmer aussah, was du gern gehabt hast, womit du Probleme hattest. Sie kennen den Namen deines Lieblingskuscheltiers. Das ist tröstlich.

Vielleicht ist das der Kern der Sache? Die Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit, die uns an einem Punkt verbunden hat, selbst wenn man sich heute auf einer Party wohl kaum mehr kennenlernen würde.

Die Frage ist also eher: Egal, ob euch das Leben auseinander geführt hat, willst du deine Geschwister heute mehr lieben? Möchtest du die Verbindung stärken? Wenn ja, wie kannst du das tun?

Wenn du oder die andere dieses Bedürfnis aber gar nicht hat, dann ist das auch in Ordnung. Manchmal tut es gut, einfach zu akzeptieren, dass eine engere Beziehung nicht mehr möglich ist. Denn Geschwister, die dir nicht guttun, sind auch nicht besser als andere, die du aus gleichen Gründen aus deinem Leben fern hältst.

Foto: privat
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Mona Kino

ist Drehbuchautorin, Familientherapeutin und Mutter von zwei erwachsenen Kindern (21 und 19). Sie lebt in Berlin und begleitet deutschlandweit Eltern in ihren pädagogischen Fragen sowie Teams beim Teambuilding. 2020 ist ihr Buch „Zeit für Empathie- Fünf Wege Fünf Wege zu innerer Balance“ im Beltz-Verlag erschienen. 

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