Muss Reichtum begrenzt werden?

Shifaaz Shamoon/ Unsplash
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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zu Reichtum und Ungleichheit auf: Es gibt Menschen, die unvorstellbar viel besitzen und dadurch mehr Einfluss in der Gesellschaft haben. Sollte es eine Obergrenze für Reichtum geben?

Frage: Die Philosophin und Ökonomin Ingrid Robeyns schlägt in ihrem Buch „Limitarismus“ (Fischer 2024) vor, eine Obergrenze für Reichtum zu setzen, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen und die Demokratie zu schützen. Einerseits halte ich dies für einen zu großen Eingriff in die Freiheit der Bürger. Andererseits finde ich es unmoralisch, dass einige Menschen unvorstellbar viel besitzen und damit mehr Einfluss haben, während anderen das Nötigste fehlt. Was meinen Sie dazu? Und darf ich das, was ich an Reichtum habe, genießen?

Jay Garfield: Diese wichtige Frage betrifft auch eine Kontroverse zwischen Sozialisten und Libertären. Lassen Sie uns zunächst folgende Fragen klären, die damit zusammenhängen:

Wozu ist eine demokratische Gesellschaft da?
Was braucht die Demokratie, um zu gedeihen und ihre Funktionen zu erfüllen?
Welche Rechte und welche Pflichten ergeben sich aus der Staatsbürgerschaft in einer demokratischen Gesellschaft?

Es gibt zwei Antworten auf die erste Frage, wozu eine demokratische Gesellschaft da ist. Die eine ist die Vertragstheorie, die von Kant, Rousseau, Locke, Hobbes und Rawls vertreten wird. Die andere ist der Kommunitarismus, den Aristoteles, Hume, Dewey, Sen und McIntyre auf sehr unterschiedliche Weise repräsentieren.

Zwei Betrachtungen von Gesellschaft

Den Vertretern der Vertragstheorie zufolge entsteht eine Gesellschaft aus der freien Vereinbarung unabhängiger Individuen, die sich zusammenschließen, um ihre individuellen Interessen, oft auch ihr Eigentum, zu schützen.

Alles beginnt mit einem Naturzustand, in dem die Freiheit nicht eingeschränkt ist, außer vielleicht, dass die Menschen sich gegenseitig nicht schaden dürfen. Aus dieser Sicht ist es wichtig, dass die Macht des Staates begrenzt ist, damit die Menschen nicht zu viel von dieser ursprünglichen Freiheit aufgeben.

Die sich daraus ergebende Vision des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und dem Staat ist libertär, d.h. die individuelle Freiheit steht im Mittelpunkt. Die Aufgabe des Staates besteht darin, diese individuelle Freiheit, die Rechte des Einzelnen, seine Sicherheit und sein Eigentum zu schützen.

Die des Kommunitarismus ist eine andere: Danach sind die Menschen von Natur aus sozial; es gibt keinen Naturzustand, in dem wir unabhängige Individuen sind. Der Zweck der Gesellschaft besteht nicht darin, frühere individuelle Rechte oder Eigentum zu schützen, sondern das Wohlbefinden der Menschen und die sozialen Bindungen zu fördern.

Aus dieser Sicht gehen individuelle Rechte nicht vor, sondern ergeben sich aus unseren sozialen Entscheidungen und Praktiken. Wir gewähren einander Rechte in dem Maße, in dem dies unser kollektives und individuelles Wohlergehen fördert.

Die sich daraus ergebende Vision der Gesellschaft ist die eines sozialen Wohlfahrtsstaates. Dieser ist so organisiert ist, dass er seinen Bürgerinnen und Bürgern Vorteile bietet, und genau dazu dient die Verteilung von Rechten und Pflichten.

Das Gemeinwohl als übergeordnetes Ziel

Vernünftige Menschen sind uneins darüber, welcher dieser Ansätze sinnvoller ist. Ich stehe dem Kommunitarismus nahe, respektiere aber natürlich diejenigen, die anderer Meinung sind.

Der Grund für meine Position ist die Überzeugung, dass der Mensch in erster Linie ein hyper-soziales Wesen ist. Die Normen, die wir entwickeln – einschließlich moralischer und politischer Normen – sind aus unserem sozialen Leben abgeleitet und unterstützen dieses.

Die Vorstellung, dass wir alle autonome Individuen sind, die aus freien Stücken Verträge abschließen, um eine Gesellschaft zu schaffen, ignoriert die Tatsache, dass der Vertrag selbst eine soziale Institution ist. Und auch die Verpflichtung, einen Vertrag einzuhalten, ist bereits eine soziale Konstruktion.

Wir sind in erster Linie soziale Wesen. Das bedeutet, dass der Zweck unserer sozialen Organisationen, einschließlich der demokratischen Institutionen, darin besteht, die soziale Matrix, in die wir hineingeboren werden, zu stärken, damit wir alle gedeihen können. Alles ist diesem Ziel untergeordnet.

Demokratie braucht Solidarität

Die Demokratie ist gerade deshalb so wertvoll, weil sie das beste System ist, um die soziale Solidarität aufzubauen, die ein gutes Leben für alle ermöglicht. Und diese Solidarität erfordert ein hohes Maß an Gleichheit unter uns.

Zu viel Ungleichheit führt zu Oligarchie und kann sogar in Tyrannei abdriften. Sie beschädigt die Solidarität, weil sie eine Klasse schafft, deren Interessen am besten dadurch gedient ist, dass sie gegen die Interessen der anderen arbeitet.

Große Ungleichheit opfert den großen Wert der demokratischen Entscheidungsfindung – die Fähigkeit, viele Ansichten zu integrieren, mehrere Perspektiven zu nutzen und Streitigkeiten öffentlich beizulegen.

Stattdessen verengt so ein System, wo wenige viel Einfluss haben, die Anzahl der Perspektiven und der Informationen, die die Entscheidungen beeinflussen; gleichzeitig werden Machtmechanismen verschleiert.

Zu viel Reichtum in wenigen Händen untergräbt die Demokratie

Welche Rechte und Pflichten haben Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft, wenn es das Ziel ist, das Gemeinwohl zu stärken?

Man kann sie hier nicht alle aufzählen. Es sind Rechte, die, wenn sie allen gewährt werden, allen zugute kommen. Dazu gehören das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten, auf Bildung, Gesundheitsfürsorge usw.

Die Pflichten, die wir haben, sind Verpflichtungen, zum öffentlichen Wohl beizutragen. Dazu kann die Notwendigkeit gehören, Steuern zu zahlen, sich ehrlich zu verhalten, fair mit unseren Nachbarn umzugehen, wählen zu gehen.

Wenn dies richtig ist, sagt es uns etwas über das Recht, unbegrenzten Reichtum anzuhäufen. Aus Sicht der Vertragstheorie haben Menschen ein solches Recht. Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass die sehr Wohlhabenden oft Libertäre sind.

Aus der kommunitaristischen Perspektive gibt es kein solches Recht. Denn die Anhäufung unbegrenzten Reichtums durch einige wenige untergräbt die demokratischen Institutionen und die Solidarität der Gemeinschaft eher, als dass sie sie stärkt.

Reichtum verpflichtet

Was bedeutet das für uns persönlich? Wenn uns die Demokratie und das Gemeinwohl am Herzen liegen, sollten wir Reichtum als Verpflichtung und nicht als Recht betrachten:

als Verpflichtung, seinen gerechten Anteil an den Steuern zu zahlen und anzuerkennen, dass dieser Anteil einen viel höheren Prozentsatz des eigenen Einkommens oder Vermögens ausmachen kann als bei jemandem, der weniger wohlhabend ist; die Verpflichtung, zu wohltätigen Zwecken beizutragen; die Verpflichtung dem Gemeinwohl zu dienen.

Ungleichheit untergräbt unsere Gemeinschaften und schafft Feindseligkeit; sie macht uns alle unsicherer und bedroht sogar das Glück derjenigen, die besser gestellt sind. Wir alle sollten uns für mehr Gerechtigkeit einsetzen, nicht für die Möglichkeit einer unbegrenzten persönlichen Anhäufung von Reichtum.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield, Foto: Spitz
Jay Garfield, Foto: Spitz

Prof. Dr. Jay L. Garfield

ist Professor für Philosophie am Smith College, in Northhampten in den USA. Zudem ist er Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt Losing Ourselves: Learning to Live without a self (2022).

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