Über das Tagebuch von Dror Mishani aus Tel Aviv
„Vielleicht sollten wir das Ausmaß des Schmerzen anerkennen, statt zurückzuschlagen“ schreibt der israelische Autor Dror Mishani kurz nach dem Massaker der Hamas auf Israel. Jetzt hat er sein „Tagebuch aus Tel Aviv“ veröffentlich, um Schmerz und Trauma zu verstehen und dadurch Wege aus der Gewalt zu finden.
Text: Steve Heitzer
In den Nachrichten hört man, Hisbollah und Huthi-Rebellen würden „aus Solidarität mit den Palästinensern“ ihre Raketen abfeuern. Bomben aus Solidarität? Seit dem Massaker der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gibt es immer wieder Solidaritätskundgebungen – entweder für Israel oder für Palästina.
Solidarität als Kampfansage gegen „Feinde“ auf der anderen Seite? Eine Stimme aus Israel zeigt einen anderen Weg.
Dror Mishani ist ein international renommierter Krimi-Autor. Mit Verbrechen kennt er sich aus. Doch diesmal holt ihn ein reales Verbrechen ein, dessen Ausmaß er erst allmählich zu fassen bekommt: das Massaker vom 7. Oktober 2023.
Sein Tagebuch aus Tel Aviv, im Juli 2024 veröffentlicht, spürt den Schrecken auf, die Existenzangst des jüdischen Volkes, die Verunsicherung und die Folgen des Gemetzels für den Alltag der Bürgerinnen und Bürger Israels. Dabei nimmt er auch die verheerende Situation des unterdrückten palästinensischen Volkes in den Blick. Sein Anliegen: verstehen wollen.
Mishani fängt Details in dem großen Kriegspanorama ein, die die Sackgasse der Gewalt zeigen, Propaganda der israelischen Regierung entlarven und den fortdauernden Wahnsinn des Krieges.
Als während der ersten Feuerpause im Gaza-Krieg Attentäter an einer Jerusalemer Bushaltestelle um sich schießen, fährt ein Mann zufällig dort vorbei, begreift sofort, was passiert, springt aus dem Wagen und schießt mit seiner Pistole auf die Terroristen, um seine Landsleute zu retten.
Mishani recherchiert und sieht auf einem Video, wie dieser Juval K. seine Pistole wegwirft und seinen Personalausweis herauszieht, als israelische Polizisten auf ihn aufmerksam werden, um zu signalisieren, dass er Israeli ist.
Trotzdem wird er erschossen – ähnlich wie die drei Geiseln, die sich einige Zeit später selbst aus Gaza befreien konnten; die halb nackt und trotz weißer Lumpen als Fahnen von israelischen Soldaten erschossen wurden.
Alle gegen alle
Mishani spürt, er muss darüber schreiben: „Nichts erfinden, dir nichts ausdenken – nur genau hinschauen und das Bild beschreiben, so wie du es siehst, das Bild des Mordens aller gegen alle, das Bild des Feuerinfernos, das wahllos Leben verschlingt […]. Das Bild eines Ortes, der sich das Leben nimmt.“
Der Autor kehrt immer wieder zur Polizeistation Sderot zurück, ein Schauplatz des Massakers. Mishani recherchiert und spürt selbst dort dem „Kontext“ der Attentäter nach, die sich dort offenbar auch gut auskannten, die Gelegenheit hatten, die Polizisten auszuspionieren. Er will wissen, warum.
Er erfährt, dass auch sie manchmal Anzeige erstatteten, weil sie von ihren Arbeitgebern schlecht behandelt oder gar entlassen wurden, ohne dass sie ihren Lohn bekommen hätten.
„Hier beginnt die Aufgabe der Literatur: sich die Geschichte des Palästinensers vorzustellen, der frühmorgens […] in Gaza aufwacht, am Grenzübergang in langen Schlangen wartet, um nach Israel zum Arbeiten zu kommen, der penible Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen muss,
(des Palästinenser,Anm. d. Red.) […] der auf Baustellen Häuser hochzieht, in denen Israelis wohnen werden, der ihre vollkommene Freiheit sieht, auf ihren Feldern Gemüse erntet“ und dessen Arbeitgeber „genau wissen, er ist angewiesen auf den Hungerlohn, den sie ihm zahlen, und das Recht und die Sicherheitskräfte werden immer auf ihrer Seite sein“.
Das Ausmaß des Schmerzes anerkennen
Noch am Tag nach dem Massaker entwirft er einen Artikel, der später in der Zeitung Haaretz erscheinen wird. Er klingt wie ein Schiffbrüchiger, der noch kurz vor dem Untergang eine Botschaft hat:
Vielleicht sollten wir Gaza nicht ausradieren? […] Es nicht dem Erdboden gleichmachen, nicht zerstören, keine Rache üben? Vielleicht sollten wir die Härte des Schlags, den wir erlitten haben, anerkennen, das Ausmaß des Schmerzes […].
Denn klar ist, dieses Leid wird aus einem zerstörten und ausgehungerten Gaza gestärkt zu uns zurückkehren […]. Und dann nachdenken […], nicht nur darüber, wie wir angreifen sollen oder den nächsten Angriff verhindern können, sondern darüber, wie wir hier mit unseren Nachbarn leben wollen.
Auch mit unseren derzeitigen Feinden – was nicht alle sind, das dürfen wir nie vergessen –, mit unseren Feinden, die vielleicht eines Tages, wenn sie sich eine würdigere Führung als die Hamas gewählt haben, und wir selbst uns eine würdigere Führung als die derzeitige gewählt haben, wieder zu unseren Nachbarn in Frieden werden können. (23f)
Mishani bleibt als Schriftsteller präsent. Bilder und Texte aus der Weltliteratur und aus den heiligen Schriften werden zu Verständnisschlüsseln für die konkrete politische und spirituelle Situation.
Er hält die Utopie eines Friedens wach und bleibt dabei sehr konkret, gerade im Blick auf die Verantwortung Israels – auch wenn er sich damit in Israel keine Freunde macht und das Tagebuch dort schon gar nicht veröffentlicht.
Das Buch berührt, erschüttert, auch unser Denken. Solidarisierung entsteht wie von selbst; das vermögen moralische Appelle mit Verweis auf Solidarität und unsere historische Verantwortung so nicht.
Solidarisierung nicht als einseitige Parteinahme für ein Volk, sondern jenseits aller Grenzen und jenseits eines für unsere Zeit typischen Bescheidwissens: Solidarität des Herzens mit all unseren leidenden Schwestern und Brüdern.
So komplex, so schier undurchdringlich, verstrickt dieser Konflikt und Krieg international, historisch und politisch ist, bleibt die Triebfeder für Frieden und Heilung doch einfach: tief genug in das Leid und den Schmerz hineinspüren – den eigenen und den der anderen, selbst wenn sie „Feinde“ genannt werden. Ohne diese Solidarisierung ist da kein Friede.
Dror Mishani. Fenster ohne Aussicht: Tagebuch aus Tel Aviv. Diogenes 2024