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Foto: Ilka Heckenmüller
Foto: Ilka Heckenmüller

Philosophische Kolumne

Seit langer Zeit kann ich wieder einmal meine Freundin seit Studientagen besuchen. Sie lebt in häuslicher Gemeinschaft mit zwei Stubentigern beiderlei Geschlechts, denen ich fremd und unbekannt bin. Als wir die Wohnungstür öffnen, nähert sich mir die eine in katzentypisch mäandernder Gangart, die ihr Interesse am Neuankömmling schwerlich zu verbergen vermag.

Nach der ersten schnuppernden Kontaktaufnahme und erst recht nach der offenbar zufriedenstellend ausgefallenen Überprüfung meiner Streichelkompetenz sucht sie immer wieder meine Nähe. Der Kater hält sich dagegen scheu zurück – er ist mit sich selbst und seinen akuten gesundheitlichen Problemen beschäftigt.

Viele Tiere sind von Natur aus neugierig, zumindest in ihren ersten Lebensjahren, und wir Menschen kommen ebenso auf die Welt. Selbst als schutzbedürftige und verletzliche Wesen begeben wir uns auf Entdeckungsreise und wollen unser Umfeld auskundschaften, denn das ist bei allen damit verbundenen Risiken der einzige Weg, uns in der Welt zu orientieren und uns mit ihr vertraut zu machen.

Im Erwachsenenalter verliert sich der Entdeckungsdrang bei den meisten Tierarten und diese Neigung ist auch uns nicht fremd. Je älter wir werden, umso mehr haben wir schon gesehen. Die Bildung einer GroKo, die Verteilung der Ministerposten und die beginnende Regierungsarbeit erleben wir nach zahlreichen Legislaturperioden nicht mehr ganz so erwartungsvoll wie als Erstwähler, der nahende Sommer wird bestimmt wieder wie üblich eher durchwachsen und der neue Kollege wird wohl auch nur einer wie die anderen sein, von denen man im Arbeitsleben schon allzu vielen begegnet ist.

Das innerliche Abwinken entspringt der verständlichen Neigung, alles Widerfahrende in bekannte Schemata einzuordnen. Dieser bequeme Reflex erspart die Auseinandersetzung mit Neuem, das ja immer auch als beunruhigende Bedrohung des mehr oder weniger kommoden Status quo interpretiert werden könnte.

Die unvermeidlich scheinende Abstumpfung verwundert weiterhin wenig angesichts der chronischen Überstrapazierung unseres Wissensdrangs durch unablässige Aufforderungen in Medien und sozialen Netzwerken, sich mit angeblich wichtigen Nichtigkeiten zu beschäftigen. Der neueste Promi-Klatsch und -Tratsch, die aktuellste wissenschaftliche Entdeckung und das Top-Produkt-Schnäppchen buhlen permanent um unsere Aufmerksamkeit und enttäuschen uns beim näheren Hinsehen am Ende doch zuverlässig.

Auch in einem anderen Sinne geht es dabei um Neugier, allerdings auf der dunkleren Seite der Marketingprofis und Datensammler, die – selbst im Verborgenen bleibend – am liebsten alles über uns wissen wollen, und dazu unser digitales Verhalten bis in die feinsten Bewegungen unseres Mauszeigers ausspionieren.

Darin steckt die bis vor gar nicht allzu langer Zeit vorherrschende negative Bedeutungsvariante des Begriffs: Neugier als die unangenehme Charaktereigenschaft eines als übergriffig empfundenen Interesses an Privatem, das den anderen nur auskundschaften will, um ihn abzuwerten, anzuschwärzen oder zu manipulieren. Man wittert den Beigeschmack von Missgunst und Bespitzelung.

Doch die ursprüngliche Lust aufs Neue ist zu kostbar, um sie uns auf diese Weise vergällen zu lassen. Aus dem Staunen über Unerwartetes und dem Wunsch, ihm auf den Grund zu gehen, entwickelte sich mit dem erwachenden menschlichen Bewusstsein der Anfang der Philosophie. Fragen über Naturereignisse wurden gestellt, soziale, ethische und psychische Zusammenhänge erkannt, neue Welten und Kulturen entdeckt. Die Neugier bleibt die instinktive Antriebsfeder für wissenschaftliche Arbeit, gesellschaftliche und persönliche Weiterentwicklung.

Interesse steht wörtlich für einen Aufenthalt im Raum zwischen mir und dem Anderen. In diesem Niemandsland, das gleichzeitig allen gehört, wohnt die Möglichkeit der vorsichtig sich annähernden Kontaktaufnahme zur Welt, zu Tieren wie zu Menschen, bei denen uns mit dem Medium der Sprache weit mehr Optionen zur Verfügung stehen als Beäugen und Beschnuppern.

Damit aus dem Aufmerksamkeit heischenden Bemerken von Veränderungen echte Begegnung entstehen kann, ist es allerdings notwendig, dass wir uns nicht von übergestülpten Themen in Beschlag nehmen und vom vermeintlich Vordringlichen die Prioritäten diktieren lassen, sondern auf die Dinge, Themen und Menschen zugehen können, die uns ansprechen, uns etwas zu sagen haben, uns anregen. Nicht nur das neugierige Kätzchen braucht eine Atmosphäre von entspannter Gelassenheit und Geduld, um Chancen auf berührende Streicheleinheiten für Körper und Seele zu ergreifen.

Daher ein Plädoyer für wohlverstandene Neugier – eine Neugier jenseits aller Gier nach Neuigkeiten, eine Neugier, die sich Zeit nimmt, die auch das Widerständige sucht, sein Geheimnis ergründen und das Fremde zum Freund gewinnen will. Sie ist keine Altersfrage, sondern eine Haltung, die aus dem selbstgestrickten Gedankenlabyrinth heraus hilft. Denn mit ihrem frischen Blick können wir uns manchmal sogar von scheinbar Bekanntem wieder überraschen lassen und hinter vermeintlichen Platitüden ein ernstzunehmendes Anliegen entdecken.

Und wenn wir uns doch einmal zu dünnhäutig fühlen: in ihre Schmollecke zurückziehen dürfen sich bei Bedarf ja nicht nur kranke Kater.

Ludger Pfeil, 30. Mai 2018

Ludger Pfeil studierte Philosophie mit den Abschlüssen Magister artium und Promotion in Bochum und erfüllte diverse Lehraufträge an Universitäten. Keineswegs ein Philosoph im Elfenbeinturm kennt er die Arbeitswelt eines global agierenden Großunternehmens aus Mitarbeiter-, Führungs- und Beraterperspektive ebenso wie die Lebenswelt eines aktiv eingebundenen Familienvaters. Er arbeitet seit 1996 als Philosophischer Praktiker mit Seminaren, Cafés, Workshops und Vorträgen sowie Einzelberatungen. Ludger Pfeil hat zur analytischen Ethik, zur Führungsethik und zur Philosophie im Alltag veröffentlicht. 2015 ist bei Rowohlt sein Buch „Du lebst, was Du denkst“ erschienen.

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