No Action-Kino

Die Schauspieler Milan Kovacevic und Vera Hrcan Ostojic in "Eighty Plus", Foto: Go East
Die Schauspieler Milan Kovacevic und Vera Hrcan Ostojic in “Eighty Plus”, Foto: Go East

Filme beim 25. goEast-Filmfestival

Es gibt kaum Kinofilme, die nicht aus kommerziellem Interesse entstehen. Anders die Werke beim goEast-Festival mit Filmen aus dem Osten Europas. Hier erlebt man bewusstes „No Action-Kino“, das die Erfahrungen von Menschen abbildet und tiefe Verbundenheit mit den Schicksalen erzeugt. Ethisches Kino, ohne zu moralisieren.

Text: Antje Boijens

Die Filme beim 25. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films“ (Ende April 2025 im Raum Frankfurt) sind sehr besonders: sie setzten den Fluss des ganz normalen Lebens fort. Man taucht nicht ab in eine fremde Welt, sondern hinein in die Gegenwart – mit all ihren Freuden und Schmerzen.

2025 lockte das Jubiläumsprogramm unter dem Slogan „Meet the East“ mit über 70 aktuellen Spiel- und Dokumentarfilmen aus dem Osten Europas, viele davon in deutscher Erstaufführung. Die Filme sieht man im kommerziellen Kinobetrieb sonst kaum, weil sie nicht die großen Zuschauerquoten erreichen.

goEast ist auch ein ungewöhnliches Forum zum Kennenlernen achtsamer Erzählweisen im Kino, etwa der Dokumentarfilm „TimeStamp“ (Ukraine 2024). Hier folgen wir Schritt für Schritt der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern im Krieg.

Schulunterricht in der Ukraine, mitten im Krieg, Foto: Go East

Ihre Fröhlichkeit, die Zuversicht, die sie ausstrahlen, und ihr liebevoller Umgang mit den Kindern im Krieg ist beispiellos. Diese Lehrer*innen machen einfach weiter, sie spielen und unterrichten mit einer solchen Selbstverständlichkeit im Angesicht des brutalen Kriegs, dass es einen sprachlos macht.

goEast öffnet aber auch Welten unserer europäischen Nachbarn, von denen wir einfach wenig wissen. Besonders „9/8FIGHT41“ (Türkei 2022), ein nur 30minütiges eindringliches Dokument, ist überwältigend.

Es beginnt mit der „Körpermeditation“ einer jungen Romafrau in offener Landschaft, sehr ruhig, sehr langsam. Mit wenigen Worten und Bewegungen vermittelt sie die Bedeutung des Körpers als Heimat der heimatlosen Roma.

Dann, durch eine sanfte Überblendung, entsteht daraus eine mitreißend rhythmische Tanzperformance mit weiteren Tänzerinnen und Transgenderpersonen. Ihr ausgelassener, genau choreographierter Tanz richtet sich gegen Rassismus und Diskriminierung der Roma in der Türkei. Gewidmet sind die Auftritte der Tanzgruppe dem 1943 von den Nazis ermordeten Sinto und Boxer Rukeli Trollmann.

Filme, die nicht der kommerziellen Logik folgen

Die vor Inspiration sprühenden Roma hinterlassen tiefe Spuren, genauso wie die anderen ungewöhnlichen Geschichten aus dem riesigen Angebot von goEast. Wir werden nicht nur mit überwältigenden Landschaften und Lebensweisen von Montenegro bis zum Polarkreis vertraut. Viele dieser Filme sind auch ganz anders gemacht, als es die kommerzielle Logik der westlichen Filmindustrie verlangt.

Es ist ein bewusstes No-Action-Kino mit unendlich ruhigen und manchmal auch schmerzhaft langen Einstellungen, die uns von der ersten Minute an zu einem achtsamen, hoch konzentrierten Schauen führen können. Zu erleben sind Filme, die Verbundenheit vermitteln wie in der Meditation und uns beim Zuschauen zu Mit-Menschen machen.

In der langsamen Taktung des Geschehens entfalten diese Filme oft eine geradezu magische Anziehungskraft. So in dem Spielfilm „At the door of the house who will come knocking“ (2024) der jungen bosnischen Regisseurin Maja Novaković, den sie mit einem Team von nur drei Personen entwickelt und gedreht hat, wobei sie selbst die Kamerafrau war.

Aus dem Film “At the door of the house who will come knocking”, Foto: Go East

Ihr „Dokumentarfilmmärchen“ – so ihre Bezeichnung – handelt vom Schmerz der Einsamkeit, vermittelt über Emin, einen alten Mann, der allein mit seinem Pferd und seinen beiden Hunden in einer traumhaften, verschneiten Berglandschaft in Bosnien lebt.

In wunderschönen, poetischen Bildern erleben wir Emins harten Alltag, sein Leben in eisiger Kälte, sein sparsames Essen, seine schwere Arbeit des Bäumefällens, den mühseligen Abtransport der Stämme, das Holzhacken vor dem kleinen Haus.

Dabei fallen kaum Worte, es sei denn, dass sich Emin mal an sein Pferd wendet und an seine beiden Hunde. Aber er will Kontakt. Deswegen lädt Emin den Nachbarn, der ihm das Holz abkauft, jedes Mal sehr freundlich zu sich ein, wenn der vorübereilt, rare zwei Mal in dieser Geschichte. Doch der Nachbar rennt jedes Mal einfach weiter, er hat „keine Zeit.“ Ende des Märchens. Und so geht Emins Leben weiter.

Filme, die indigenes Wissen verarbeiten

Als Meister*nnen des präzisen Schauens und Verweilens zeigten sich bei goEast zweifelsohne Anastasia Lapsui und Markku Lehmuskallio, ein russisch-finnisches Autor*innenpaar, dem die Hommage des Festivals gewidmet war.

In den 80er Jahren hatte Lehmuskallio bereits eine eigene Form der dokumentarischen Erzählung in einem Film über die Lebensweisen der finnischen Saami entwickelt, zu sehen in „Skierri – Land of the Dwarf Birches“.

Dann schuf Lehmuskallio durch die Verbindung mit Anastasia Lapsui, einer Indigenen vom Stamm der Nenzen, in den 90er Jahren, ein außergewöhnliches, gemeinsames Werk, das Elemente des Dokumentarischen, des Spielfilms, aber auch des Animationsfilms mit modernen Soundtracks und indigener Musik vereint.

Jeder Film der beiden ist eine Hommage an das Wissen der indigenen, antarktischen Kulturen und an deren holistische, systemische Weltsicht. Seit dem 19. Jahrhundert sind sie nun dem europäischen, kolonialen Zerstörungs- und Auflösungsprozess unterworfen, im 20. Jahrhundert forciert durch die Sowjetisierung ihrer Lebensräume unter Stalin.

Die Filmemacher Lapsui und Lehmuskallio, Foto: Go East

Lapsui/Lehmuskallio erlauben sich, in den einzigartigen Sprachen der Indigenen zu drehen. Das machen sie so ruhig, überlegt und klar, dass das Zuschauen zutiefst berührt. Man könnte heulen bei dem Spielfilm „Tsamo“ (Finnland 2015/ Deutschlandpremiere 2025).

Er zeigt anhand der Geschichte eines Tlingit-Mädchens, wie im Finnland des 19. Jahrhundert die Spirale der kulturellen Gewalt und Enteignung beginnt.

Ein wohlwollender Bergbauingenieur bringt das „arme“ Tlingit-Mädchen Tsamo aus Südostalaska in seinen Haushalt und nimmt sie schließlich in seine Heimat nach Finnland mit. Dann beginnt die „Europäisierung“ von Kleidung und Frisur, damit einhergehend darf Tsamo auch die eigene Sprache nicht mehr sprechen. Schließlich werden alle Relikte entfernt, die Tsamo noch an ihre eigene Kultur erinnern könnten. Nichts wird ihr gelassen.

Lapsui/Lehmuskallio erzählen ihre Geschichten niemals reißerisch oder anklagend. Sie, wie auch die anderen Filme beim goEast-Festival, zeigen mit einer bewundernswerten Gelassenheit einfach das, was ist.

Damit lenken sie die Aufmerksamkeit ruhig und überlegt vom Alltäglichen hin zu den tieferen Sinnfragen unserer Existenz. Sie lassen die Zuschauer*innen zur Besinnung kommen.

Aus diesem Ansatz könnte sich ein neues, ein ethisches Kino formen, eines, das aufzeigt, worum es heute geht und wo wir jetzt in der Gegenwart stehen, ohne moralischen Zeigefinger und ohne belehren zu wollen.

Moralische Fragen ergeben sich ganz natürlich aus dem, was wir hier bewusst wahrnehmen können: die Bewältigung der Vergangenheit, die anhaltende Zerstörung der Natur, der Krieg in der Ukraine, das Leben alter Frauen oder auch Fragen nach dem schlichten Überleben in Ländern, deren Kampf um eine eigenständige Existenz noch lange nicht zu Ende ist.

Auf die Frage, wie sie der Versuchung widerstehen könne, mehr Action in ihre Filme zu bringen, antwortete Maja Novaković ganz kurz: „Comets normally don’t fall in our backyards“ („Kometen fallen normalerweise nicht in unsere Hinterhöfe.“ Es ist sicher klug, sich in der Filmkunst ab und zu daran zu erinnern.

Antje Boijens

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