Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Organspende: Debatte um Widerspruchsregelung

Lucky TD/ shutterstock.com
Lucky TD/ shutterstock.com

Ein Standpunkt von Klaus Schäfer

Ist die Widerspruchsregelgung zur Organspende ethisch gerechtfertigt? Tatsache ist: 80 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger hat keine Aussage zur Organspende getroffen. Die neue Regelung würde sie verpflichten, über ihren Tod und eine wichtige ethische Frage nachzudenken. Pastor und Klinikseelsorger Klaus Schäfer ist dafür.

Seit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im vergangenen Jahr angekündigt hat, dass er zur Frage der Organspende die Widerspruchsregelung einführen will, wird dies überall in Deutschland – vom Stammtisch bis zum Bundestag – diskutiert.

Worum geht es? – Als Klinikseelsorger mit über 15 Dienstjahren kenne ich die Situation auf der Intensivstation aus meiner beruflichen Praxis sehr gut. Im Folgenden zeige ich einen typischen Verlauf:

Herr X., Mitte 50, kommt mit einer schweren Hirnblutung auf die Intensivstation; bei über 50 Prozent der Organspender führt dies zum Hirntod. Da der Patient nicht mehr selbst atmet, wird Herr X. künstlich beatmet. Die Ärzte versuchen mit ihrer High-tech-Medizin sein Leben zu retten.

Die Angehörigen hoffen sorgenvoll. Nach zwei Tagen gibt es deutliche Hinweise, dass ein Hirntod vorliegen könnte.

Um hier Klarheit zu schaffen, wird eine Hirntoddiagnostik (HTD) angeordnet. Am dritten Tag nach der Einlieferung werden von zwei voneinander unabhängigen Ärzten die klinischen Tests der HTD durchgeführt. Dabei wird keine Hirnaktivität mehr festgestellt.

Den Angehörigen wird das Ergebnis mitgeteilt.

Am vierten Tag nach der Einlieferung wird der Hirntod von Herrn X. festgestellt. Herr X. ist damit aus medizinischer und juristischer Sicht tot, wenngleich sein Herz dank dem Einsatz der Intensivmedizin noch schlägt. Datum und Uhrzeit vom Ende der HTD werden als Todeszeitpunkt in den Totenschein übertragen.

80 Prozent der Menschen hat keine Aussage zur Organspende getroffen

Hätte Herr X. Lungenkrebs oder käme er aus anderen Gründen als Organspender nicht in Frage, würde man die Hinterbliebenen noch kurz Abschied nehmen lassen und dann die künstliche Beatmung ausschalten. Bald würde es dann zum Herzstillstand kommen. Da jedoch Herr X. gesunde Organe hat, kommt er als Organspender in Frage. Er wird also weiter beatment. Die Ärzte brauchen die Zustimmung für die Organentnahme.

Bis zum Jahr 2011 lag nur bei 6,7 Prozent der Hirntoten eine schriftliche Erklärung vor, ob sie der Organspende zustimmen oder diese ablehnen. In über 90 Prozent der Fälle mussten die Hinterbliebenen gefragt werden, ob ihnen der Wille des Hirntoten zur Frage der Organspende bekannt ist.

Um Abhilfe zu schaffen, wurde 2012 das Transplantationsgesetz geändert: von der Zustimmungsregelung zur Erklärungsregelung. Jeder sollte sich selbst entscheiden und damit die Hinterbliebenen entlasten. Die Idee war, dass spätestens 2014 nahezu alle Betroffenen eine schriftliche Erklärung abgegeben hätten. Doch selbst bis 2017 stieg der Anteil nur auf 16,0 Prozent. In über 80 Prozent der Fälle müssen noch immer die Hinterbliebenen nach dem Willen des Hirntoten gefragt werden.

Um diese Situation zu ändern, will Jens Span in Deutschland die Widerspruchsregelung einführen, und zwar so, wie sie in Österreich praktiziert wird: Liegt kein schriftlicher Widerspruch zur Organspende vor, werden die Hinterbliebenen gefragt, ob ihnen ein mündlicher Widerspruch bekannt ist. Wenn ihnen kein mündlicher Widerspruch bekannt ist, werden die Organe entnommen.

Im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht

Was ist von der Widerspruchsregelung zu halten? Ist sie ethisch und juristisch gerechtfertigt? Einige Gegner der Widerspruchsregelung geben an, dass diese gegen das Grundgesetz und gegen die Menschenwürde verstoßen würde. Wenn dem so wäre, dürfte Deutschland keine Organe aus dem Eurotransplant-Verbund importieren, denn diese stammen alle aus Ländern mit Widerspruchsregelung. Dabei exportiert Deutschland jährlich rund 400 Organe und importiert rund 600 Organe. So wie Deutschland Organe aus einer Herztot-Spende ablehnt, müsste es auch Organe aus Ländern mit Widerspruchsregelung ablehnen.

Greift der Staat mit der Widerspruchsregelung nicht zu sehr in das Selbstbestimmungsrecht der Bürger ein? Dagegen ist anzumerken: Der Staat sorgt auch in anderen Bereichen des Lebens für Klarheit, wenn man es selbst nicht geregelt hat. Hierzu drei Beispiele:
1. Erbrecht – Wer kein Testament verfasst hat, bei dem gilt nach seinem Tode die gesetzliche Erbfolge.
2. Patientenverfügung – Wer keine Patientenverfügung verfasst hat, bei dem setzt das Amtsgericht einen Betreuer ein. Wenn man sich innerhalb der Familie nicht einig ist, wer diese Funktion erfüllen soll, wird ein Außenstehender eingesetzt.
3. Kinder – Können beide Erziehungsberechtigten oder der Alleinerziehende durch Koma oder Tod seine Aufgaben gegenüber seinen minderjährigen Kindern vorübergehend oder dauerhaft nicht erfüllen und liegt keine entsprechende Verfügung vor, kümmert sich das Jugendamt bis zur Volljährigkeit der Kinder um diese.

Der Staat regelt also in vielen Bereichen, wo der Bürger keine Regelung getroffen hat. Jeder Bürger und jede Bürgerin hat die Möglichkeit, von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen. Sie kann das regeln, was sie nicht dem Staat überlassen möchte, sei es das Testament, die Patientenverfügung, die Vorsorgevollmacht. Und genauso gilt dies für die Organentnahme im Fall des Hirntods. Jeder kann widersprechen. Somit steht die Widerspruchsregelung im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht.

Organspende rettet Leben. Jeder Organspender kann nach seinem Tod durchschnittlich 3,3 Organe geben. Damit rettet er drei Menschen das Leben. Diesen Akt der Nächstenliebe, so der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz (1990), sollte daher zur emotionalen Entlastung der Hinterbliebenen auch in Deutschland bald mit der Widerspruchsregelung praktiziert werden.

Klaus Schäfer ist katholischer Priester, er arbeitet als Klinikseelsorger in einem Transplantationszentrum. Um über Organspende, besonders den Hirntod aufzuklären, eröffnete er 2014 die Internetseite www.organspende-wiki.de, im Herbst 2017 veröffentlicht er das Freebook “Hirntod verstehen“. Mehr zur Widerspruchsregelung

 

Mehr zur Kontroverse über die Organspende:

Organspende – Chancen und Zweifel

“Organspender sind Lebensretter”

“Organspende macht den Körper zum Rohstoff”

 

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
1 Kommentar
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Sehr geehrter Herr Schäfer,
Ihre Meinung in allen Ehren, aber Ihre Argumentation ist nicht schlüssig:
1. Sie schreiben, wenn die Widerspruchslösung dem Grundgesetz nicht entsprechen würde, dann dürfte Deutschland keine Organe importieren, denn diese stammten aus Ländern mit Widerspruchslösung. Das ist nicht richtig, denn es handelt sich um zwei verschiedene Dinge. Es ist vielleicht nicht mit dem Grundgesetz, dessen Anwendungsbereich Deutschland ist, vereinbar, dass seine Bürger verpflichtet werden sollen, ihre Organe herzugeben, wenn sie dem nicht widersprochen haben. Das hat aber nichts damit zu tun, was Deutschland importiert. Auch Kinderarbeit ist in Deutschland verboten, nicht aber der Import von Waren, die mit Kinderarbeit hergestellt wurden. Das mag man verwerflich finden, verboten ist es aber nicht.
2.Sie schreiben, der Staat regelt in vielen Bereichen Dinge, die die Menschen selbst nicht geregelt haben. Das ist richtig und das ist auch eine wichtige, vielleicht die wichtigste Aufgabe eines Staates. Nur hat es nichts, aber auch gar nichts mit der Widerspruchsregelung zu tun. Denn hier ist es nicht so, dass der Staat, wie in den Beispielen, die Sie nennen, Erbrecht, Patientenverfügung, Vormundschaft, irgendeine Lösung finden muss. In den genannten Fällen besteht absoluter Handlungsbedarf: Der Besitz des Verstorbenen muss irgendwie vererbt werde, der Patient muss entweder am Leben gehalten werden oder nicht, die Kinder von Eltern, die nicht mehr in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen, müssen schließlich untergebracht werden.
Aber ein hirntoter Mensch muss gar nichts. Lasst ihn in Frieden sterben und begrabt ihn. Wenn er nicht verfügt hat, was mit seinen Organen und seinem Körper geschehen soll, dann hat er nichts verfügt, das ist seine Entscheidung, die wir akzeptieren müssen. Wir dürfen niemanden zwingen, eine diesbezügliche Entscheidung zu treffen, das verstößt in der Tat, gegen das Selbstbestimmungsrecht.
3. Sie schreiben, Organspenden können Leben retten. Ich wundere mich über diesen Satz aus dem Munde eines Priesters. Wir können überhaupt kein Leben retten, jedes Leben geht zum Tode. Wir können im besten Fall den Zeitpunkt des Eintritt des Todes etwas verschieben.

Mit freundlichen Grüßen
Carsten Petersen

Kategorien