Ein Buch, das Zuversicht stiften soll
Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, ist der Buchautor Jürgen Wiebecke überzeugt. Eine Vernunft, die allein auf Machbarkeit und Technik setzt, habe ausgedient. Ein Appell, Freiheit mit freiwilliger Selbstbeschränkung und Selbstrelativierung zu verbinden.
Der Buchtitel charakterisiert die emotionale Verfassung vieler Menschen in einer Zeit, die von vielfältigen Krisen erschüttert ist. Obwohl der Philosoph und JournalistWiebecke das Krisenhafte facettenreich thematisiert, obwohl ihm „die Problemskizze übertrieben groß“ gerät, ist das zentrale Anliegen des Buches keinesfalls die pessimistische Bilanzierung des Status quo. Vielmehr will es Zuversicht stiften, die Leserschaft ermutigen, Imaginationskräfte zu aktivieren, über das Bestehende hinauszudenken und eine Bewegung nach vorn anzutreten.
Desorientierung scheint derzeit vorherrschend, negative Affekte wie Angst und Aggressivität verstärken und verselbständigen sich. Der Autor spricht von einer „historisch beispiellosen Ausnahmesituation“, in der es darauf ankomme, die „Wahrnehmung des Krisenhaften“ nicht übermächtig werden zu lassen.
Er lädt zu einem Perspektivwechsel ein, der erkennbar macht, dass wir an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter stehen. Ein großer historischer Bogen, der in der Neuzeit ansetzte, geht zu Ende. Ausgedient hat eine Denkhaltung, mit der Menschen sich selbst als frei verfügende Subjekte aus der Natur herausdefinieren.
Die mit Descartes (1595-1650) einsetzende Mathematisierung der Welt beförderte ein Vernunftverständnis, das sich zunehmend auf Technik und Machbarkeit reduzierte, womit ein immenser Fortschrittselan einherging.
Doch heute müssen wir erkennen: „Es gibt keine freie Vernunft“. Wir können unsere natürliche Abstammung nicht ablegen, nicht souverän agieren, müssen vielmehr lernen, uns als Teile der Natur zu begreifen.
Hier erteilen der Klimawandel und insbesondere das Pandemiegeschehen der letzten Jahre schmerzhafte Lektionen. Sie beleidigen, wie Wiebecke sagt, unser bisheriges illusionäres Selbstverständnis. Hinzu kommt ein emotionales Erleben, das er in Anlehnung an Glenn Albrecht als „Solastalgie“ bezeichnet: ein Lebensgefühl der Untröstlichkeit angesichts existenzieller Erfahrungen von Naturentfremdung.
Weise Einsicht kommt spät
Der Autonomiewahn der Moderne zeitigt unzählige Gebrechen, an denen wir zunehmend leiden. Die Wachstumsideologie bewirke die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Anspruch der Selbstoptimierung verlangt Totalidentifikation mit dem Job.
Die Folgen sind Freiheitsüberforderung, Singularisierung, Erschöpfung und im Gegenzug die Sehnsucht nach Autoritäten. Hier nun ringt der Autor darum, Auswege aufzuzeigen.
Er nutzt ein von Hegel entliehenes Gleichnis — das Bild der Eule, die stets in der Dämmerung losfliegt. Dies will uns sagen, dass weise Einsicht spät eintritt. Erst wenn die Welt sich bereits zu verdunkeln beginnt, können wir das Vergangene erhellen und uns neu ausrichten.
Geduld und Gelassenheit sind wesentlich. Für grundlegende Umgestaltungen gilt es das Tempo rauszunehmen, gleichwohl wir dringend Lösungen benötigen. Notwendig wäre ein Weg der kleinen Schritte, auf dem wir unsere Begrenztheit und Naturabhängigkeit besser verstehen, uns dementsprechend neu austarieren. Dies gilt ebenso für die Ebene gesellschaftlicher Kooperation.
Aktuelle Krisen machen unsere Ungeübtheit in der Angst augenfällig. Sie „begünstigen das Zwanghafte in uns“, provozieren Dogmatismus (die „Überschaubarkeit der eigenen Blase“) und Fanatismus („Je unübersichtlicher die Welt, desto härter der eigene Standpunkt“).
Konstruktiv mit schwierigen Gefühlen umgehen
Dementgegen wäre umsichtig und besonnen ein neuer Anfang zu setzen, eine neue Etappe der Aufklärung einzuleiten, in der Freiheit sich mit bewusster Selbstbeschränkung verbindet. Wie Wiebecke betont, kommt es auf jede(n) Einzelne(n) an.
Es geht darum, die Fähigkeiten zu Selbstbeobachtung und Selbstdistanzierung zu kultivieren. Nur so vermag eine gelassene Haltung zu wachsen, in der nach und nach vergangene Irrtümer erkennbar und aktuelle Probleme verstehbar werden, um notwendige Kursänderungen vorzunehmen.
Dies verlangt vor allem einen konstruktiven Umgang mit negativen Gefühlen wie Verunsicherung, Angst und Zorn. Wir müssen lernen, nachsichtiger auf uns selbst als begrenzte Wesen zu blicken, lernen, ein gutes Verhältnis zu unserer Verletzlichkeit und Sterblichkeit zu finden, den Wert auch schwerer Momente zu erkennen. Dies meint keineswegs, einem Kult der ‚Vulnerabilität‘ zu erliegen, d.h. uns nurmehr als Opfer zu betrachten und die eigene Beteiligung am problematischen Geschehen nicht wahrhaben wollen.
Wir müssen uns selbst relativieren
Im Zuge dieser Transformation ließe sich eine verbesserte Basis für eine plurale Welt finden — für eine zivilisierte Streitkultur, die respektvoll und kompromissbereit einen „Raum des Dazwischen“ gestaltet.
Denn um unsere Limitierungen zu überwinden, sind wir unbedingt auf die Positionen anderer angewiesen. Menschen sind „gemischte Existenzen“, keine „reinen Vernunftwesen, (…) frei von Widersprüchen und immerzu hochmoralisch“. Betrachten wir vorbehaltlos die „innere Wildnis“ — die Unergründlichkeit unserer Selbst —, so kann sich grundlegender Wandel vollziehen.
Es mag paradox erscheinen, aber der notwendige Aufbruch zu Eigenverantwortung in Zuversicht und zu einer verbesserten politischen Kultur wurzelt genau in dieser Selbstrelativierung. Der Autor setzt auf neue demokratische Beteiligungsformen, auf eine aktive Zivilgesellschaft, die — angesiedelt zwischen Privat- und Berufssphäre — Räume der Anerkennung schafft, die wie ein Immunsystem wirken.
Dem ist unbedingt zuzustimmen. Das Buch bietet treffende Analysen, erteilt überaus wichtige Anstöße. Fraglos ermutigt es aufgeschlossene, selbstkritische Leserinnen und Leser dazu, neue Wege zu bahnen.
Doch wie erreicht man diejenigen, die hoffnungslos schwanken und torkeln, die jede Einladung zu Selbstbesinnung ausschlagen? Wie die ichfixierten Erfolgsjunkies und jene, in denen der emotionalisierte Hype digitaler Medien gravierende Spuren hinterlassen hat? Es gibt sie in allen gesellschaftlichen Gruppen.
Heidemarie Bennent-Vahle
Jürgen Wiebecke. Emotionale Gleichgewichtsstörung: Kleine Philosophie für verrückte Zeiten. Kiepenheuer&Witsch 2023