Interview mit Rainer Mausfeld
Die Repräsentative Demokratie schütze nicht die Interessen des Gemeinwohls, sondern der Eliten, sagt Kognitionsforscher Professor Rainer Mausfeld. Im Gespräch mit Ken Jebsen denkt er über ein anderes Demokratieverständnis nach und die Frage: Was hindert uns daran, für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen?
Frage: Die Ursprünge der Demokratie liegen in der Antike. War Aristoteles eigentlich ein Freund der Demokratie?
Mausfeld: Nein, denn Aristoteles sah die Gefahr, das nicht die Besten regieren. Er hatte die klare Vorstellung einer Hierarchie der Wertigkeiten bei den Menschen. Die Philosophen standen oben, die „Barbaren“ und Frauen unten. Nach seiner Auffassung konnte es nicht angehen, dass die Mehrzahl der weniger „Edlen“ über das Schicksal der „Edlen“ bestimmt.
Deswegen sah Aristoteles die Demokratie negativ und bevorzugte die Herrschaft der „Edlen“. Ein edlder Mensch ist für ihn dadurch bestimmt, dass er völlig selbstlos ist, also keinen Eigeninteressen folgt.
Aristoteles sagt, dass die Demokratie schon deshalb nicht funktionieren könne, weil schon die Eigentumsfrage daran scheitert. Denn die Mehrheit der Nicht-Besitzenden könnte der Minderheit der Besitzenden das Eigentum wegnehmen, und das sei nicht rechtes. Dies ist eigentlich das Grundparadoxon der Demokratie.
Hume hat dies auf den Punkt gebracht. Er verstehe einfach nicht, warum die Massen das, was gegenwärtig geschieht, überhaupt mit sich machen lassen, denn gerade in einer Demokratie könnten sie doch einfach sagen Nein. Ein sehr aktueller Gedanke!
Wir wollen den Status quo bewahren
Ich will Ihnen eine Zahl nennen. Wenn aktuell 62 Menschen auf diesem Planeten so vermögend sind wie 3,7 Milliarden, dann wäre es ja ein Leichtes für die 3,7 Milliarden zu sagen: „Wir sollten umverteilen“. Aber es passiert nicht. Wissen das die 3,7 Milliarden nicht oder haben sie Angst?
Mausfeld: Ja, ich glaube es mangelt an Wissen. Selbst wenn Sie diese Zahlen über den digitalen Äther allen Menschen zugänglich machten, würde es wenig ändern. Es herrschen Angst, Aussichtlosigkeit und Gedanken vor wie „Es hat ohnehin keinen Sinn“, „ich habe das noch nie gemacht“.
Möglich ist auch, dass viele mit ihrem jetzigen Zustand zufrieden sind. Zumindest haben sie Sorge, dass alles schlimmer wird, wenn sich etwas ändert. Es ist ein komplexes Geflecht, was dazu führt, dass wir Status Quo-Bewahrer sind. Die Psychologie hat Hunderte von Studien zu diesen Formen der Lethargie gemacht.
Das heißt, man delegiert die Wirksamkeit an andere, zum Beispiel Parteien. Nennt sich das dann Parteien-Demokratie?

Rainer Mausfeld ist Wahrnemungs- und Kognitionsforscher
Mausfeld: Ich würde es repräsentative Demokratie nennen. Das war ja auch der Witz: Die Eliten erkannten relativ schnell, dass allein das Wort „Demokratie“ Opium für das Volk ist, um echte Demokratie zu verhindern. Man schuf mit dem Wort Demokratie Begeisterung, das Volk fühlt sich gewürdigt und gewertschätzt; das Volk ist ja im Wort ‘demo’ enthalten.
Aber dann hat man durch die Hintertür wieder Balken eingezogen: Wie kann man die Demokratie entschärfen, wie kann man verhindern, dass der Status der Eliten durch die Demokratie gefährdet wird? Der Trick war von Anfang an die Repräsentative Demokratie, denn das bedeutet: Wir haben Vertreter, die aber nicht laufend rechenschaftspflichtig gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sind. Ich kann sie auch nicht jederzeit abwählen, sondern sie fungieren als eine Art Pufferzone zwischen dem Volk und den Eliten.
Die Frage bei Repräsentativer Demokratie ist: Wen repräsentieren diese Repräsentanten?
Mausfeld: Die Repräsentanten kommen immer aus den Eliten, und damit ist es ein abgeschlossenes System. Was aber ist Demokratie eigentlich? Demokratie ist, dass jeder Bürger einen angemessenen Anteil an den Entscheidungen hat, die sein Leben und die Gestaltung seiner Gemeinschaft betreffen. Das war die eigentliche Idee der Demokratie in der Aufklärung.
Dies hatte eine ganze Reihe von gewaltigen Konsequenzen, wenn man darüber nachdenkt. Es bedeutet Selbstbestimmung, radikale Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft. Aber von dieser ursprünglichen Idee sind wir heute weit entfernt. In den 70er Jahren hat das etwas besser geklappt. Wir sind nicht annähernd an dem, was man unter tatsächlicher Demokratie versteht.
Demokratie beim Volk nicht gut aufgehoben?
Es gibt Elitenvertreter, die wir für linksliberal halten bzw. die sich selbst so nennen, wie Jakob Augstein, Frank Schirrmacher (1959 bis 2014) und Co.. Sie denken, es sei in Ordnung, dass wir eine Repräsentative Demokratie haben. Denn echte Demokratie wäre schädlich, weil das Volk damit nicht umgehen könne.
Mausfeld: Diese Sichtweise hat eine Reihe von Implikationen, über die man nachdenken sollte. Denn wenn nur die Vertreter in einer Repräsentativen Demokratie einen Volkswillen verkörpern oder sich für das Gemeinwohl einsetzen, dann heißt das eigentlich, dass das Volk überhaupt nicht repräsentiert ist. Dann hätten die „freien Wahlen“ keinen Sinn, weil die Leute ja ohnehin zu blöd sind, das Richtige zu wählen.
Mit dem gleichen Argument von Augstein könnte ich auch sagen, die freien Wahlen sind unsinnig. Sie sind unwirksam, weil wir das durch die Repräsentative Demokratie abgepuffert haben: Es sind die Eliten, die das Volkswohl am besten vertreten.
Jakob Augstein meinte: Die Repräsentative Demokratie schützt die Demokratie vor dem Volk und das Volk vor sich selbst, denn beim Volk ist die Demokratie nicht gut aufgehoben.
Mausfeld: Genau, das heißt dann, dass die Demokratie bei den Eliten gut aufgehoben wäre. Aber ist das so? Alles, was wir in den letzten Jahren hatten, ist durch die Eliten gemacht worden: die Erosion des Rechtsstaates, zum Beispiel durch Staatstrojaner, aber auch die Zertrümmerung des Sozialstaates im Zuge der Agenda 2010 mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors und dem Abbau von Arbeitnehmerrechten.
Auch die Verrechtlichung von Unrecht ist zu nennen. Hierfür gibt es viele Beispiele, etwa in der Steuergesetzgebung, dass Arbeit weitaus stärker besteuert wird als Kapital, institutionalisierte Korruption durch exzessiven Lobbyismus und sog. Freihandelsabkommen, z.B. mit Afrika als eine Form des Neokolonialismus. Der Satz, dass das Wohl des Volkes bei den Eliten besser aufgehoben ist, ist zynisch.
Die Eliten sind ja heute die Finanzeliten. Also hieße es, wenn man es zu Ende denkt, dass das Wohl der Völker oder der Spezies Mensch bei der Wall Street oder der City of London ganz gut aufgehoben ist.
Mausfeld: Das heißt der Satz natürlich, wobei „Eliten“ ein schwieriger Begriff ist. Es gibt jede Menge unterschiedlicher Eliten in einer Gesellschaft. Trotzdem würde ich heute von einer Homogenisierung der Eliten sprechen.
Es gab auch Zeiten, in denen die Kämpfe unter den Eliten sehr viel größer waren als heute und wo die verschiedenen Gruppen unterschiedliche Interessen hatten, was sich auch in den Medien niederschlug. Die Medien hatten ein größeres Spektrum, nicht weil sie das Volk vertreten haben, sondern weil sie unter schiedliche Aspekte oder Teile der Eliten vertreten haben.
Kapitalismus und Demokratie widersprechen sich, sagt Norman Chomsky. Wie sollen wir das ändern, wer ist überhaupt „wir“, wenn das Wir zerschlagen wird? Wie will man mit so einer Gesellschaft einen neuen Weg beschreiten, wenn viele gar nicht wissen, worübe
r wir reden? Sie können mit diesen Klassen auch gar nichts anfangen, sie sehen sich gar nicht als Klassen.
Mausfeld: Das ist auch in der politischen Theorie ein ganz schwieriger Punkt. Was ist das Ziel und wie gelangen wir dorthin? Können wir sozusagen mit einer abrupten Revolution von dem jetzigen Zustand zu einem anderen kommen?
Das Problem ist: Wir haben die ökonomischen Verhältnisse mittlerweile so tief in unsere Seele eingeschrieben, dass man nicht damit rechnen kann, einfach einen Schalter umzulegen. Das sind ganz schwierige Fragen, die sich stellen im Kontext eines Überganges von der jetzigen Situation in einen anderen Zustand.
Der Konsumismus hält uns vom Wesentlichen ab
Da möchte ich einhaken. Rudi Dutschke wurde gefragt, was man denn machen solle. Er entgegnete, er könne keine Antworten geben, solange die gesellschaftliche Bewusstlosigkeit nicht überwunden sei.
Mausfeld: Da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Aber war die gesellschaftliche Bewusstlosigkeit damals weniger stark ausgeprägt als heute? Sind wir heute bewusstloser?
Mausfeld: Ja, wir sind heute bewusstloser. Wir haben eine Mischung, wie Orwell und Huxeley sie sich gar nicht hätten erträumen können. Wir amüsieren uns zu Tode. Bei Orwell haben wir nur den Sicherheits- und Überwachungsstaat, bei Huxley nur die Hedonistischen Vergnügungsdinge, die uns ablenken sollen vom Wesentlichen. Heute haben wir beides: Orwell und Huxley. Der Konsumismus ist der eigentliche Trick, uns von dringenden Veränderungen abzubringen.
Wir bräuchten einen langen Atem, eine Spannungstoleranz und etwas, was uns Hoffnung gibt. Ich glaube, ohne eine Rahmengeschichte, um uns klarer zu werden, was ist eigentlich unser Ziel, auf das wir hinaus wollen, laufen wir in die wunderbar aufgestellte Falle. Leute empört euch, wie ihr wollt, bis zur Erschöpfung, bis zur Verblödung, und dann passiert nichts. Das ist genau die Gefahr.
Dennoch sollten wir uns dazu entschließen, überhaupt etwas zu machen. Der Neoliberalismus möchte ja, dass wir eigentlich nur ein Individuum sind, dass wir nur Konsumenten sind. Aus der Rolle müssen wir raus. Das kann durch eine gewisse Verweigerung passieren, aber den wichtigsten Schritt finde ich eigentlich sich zu entschließen, irgendetwas zu tun.
Also sich zu wehren?
Mausfeld: Ja, sich überhaupt wieder sozial zu organisieren. Wenn man will, ein Klassengefühl oder Gefühl von Gemeinsamkeit zu entwickeln und politisch zu handeln.
Auszug aus einem längeren Video-Interview von Ken Jebsen mit Rainer Mausfeld, mit freundlicher Genehmigung
Prof. Dr. Rainer Mausfeld arbeitet im Bereich Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung. Studium der Psychlogie, Mathematik und Philosophie, bis 2016 Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie an der Universität Kiel. Ein viel beachteter Vortrag: „Warum schweigen die Lämmer? Demokratie, Psychologie und Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements“, zur pdf-Datei