Interview mit einer Expertin für Autismus und Schule
Menschen mit Autismus können Reize oft schlecht verarbeiten und kommunizieren anders als andere. In der Gesellschaft werden Betroffene oft als „defizitär“ wahrgenommen. Betroffene Kinder sollen sich anpassen, sonst werden sie auch im Schulsystem diskriminiert oder sogar ausgeschlossen. Autismus-Expertin Stephanie Meer-Walter wirbt für mehr Verständnis und Unterstützung.
Das Gespräch führten Janna Degener-Storr und Sarah Kröger
Frage: Eltern autistischer Kinder berichten, dass ihre Kinder nicht die Schule besuchen dürfen. Auch mehrere Rechtsanwälte haben uns von solchen Fällen erzählt. Wie häufig kommt so etwas vor?
Stephanie Meer-Walter: Es gibt dazu keine repräsentativen Erhebungen für Deutschland. Internationale Studien kommen zu dem Ergebnis, dass zwischen 23 und 72 Prozent der autistischen Kinder betroffen sind.
Frage: Warum können die Kinder nicht am Unterricht teilnehmen?
Meer-Walter: Teilweise werden die autistischen Kinder vom Unterricht suspendiert – für Stunden, Tage, Monate oder sogar Jahre. Doch es gibt auch andere Gründe. In manchen Fällen sagen die Schulen: „Wenn die Schulbegleitung ausfällt, darf das Kind nicht in die Schule kommen.“
Doch bei den Schulbegleitungen, die autistische Kinder 1:1 im Unterricht betreuen und ihnen beim Lernen helfen, gibt es eine hohe Fluktuation und viele Ausfälle. Im Gespräch mit den Betroffenen fanden Wissenschaftlerinnen heraus, dass die befragten Kinder sehr gern in die Schule gehen.
Aber sie haben mit einem hohen Anpassungsdruck zu tun und bekommen nicht die Unterstützung und die Nachteilsausgleiche, die sie benötigen. Dadurch entsteht ein hoher Leidensdruck. Der führt manchmal dazu, dass viele Kinder nicht mehr zur Schule gehen können, nicht einmal zur Förderschule.
„Es braucht ein Reframing des autistischen Seins, das einfach als anders akzeptiert wird.“
Frage: Sie haben selbst eine Schule geleitet. Wie gut sind Regelschulen auf autistische Schüler vorbereitet?
Meer-Walter: Als im Zuge der Inklusion vermehrt Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf in die Regelschulen kamen, haben sich viele Kollegen dagegen gewehrt. Sie wollten die Eltern überreden, ihr Kind an die Förderschule zu schicken.
Innerhalb der Städte und Kreise gab es mitunter auch Vereinbarungen zur Verteilung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Es wurde nicht danach geschaut, warum Kinder zum Beispiel aggressive Ausbrüche hatten. Aufgrund von fehlendem Wissen und daraus resultierender Überforderung gingen die Bemühungen oft dahin, diese Kinder an eine andere Schule oder Schulform zu verweisen.
Auch Lehrkräfte, die sehr engagiert und eine offene wie positive Haltung hatten, trauten sich z.B. nicht zu, den Bedürfnissen autistischer Schüler gerecht zu werden, weil ihnen schlicht das Wissen fehlte. Keine andere Gruppe von Kindern mit Behinderungen hat so große Schwierigkeiten in der Schule.
Frage: Woran liegt das?
Meer-Walter: In Deutschland gibt es wenig Informationen dazu. Die Bildungsministerien befragen keine autistischen Schüler. Sie haben kaum Strategien für den Umgang mit ihnen. Und es gibt auch kaum Studien dazu, wie sie lernen und was sie in der Schule brauchen.
Bayern hat zwar eine Autismus-Strategie erstellt, aber die wurde noch nicht umgesetzt und es ist auch kein Folgeprojekt dafür vorgesehen. In Ländern wie England, den USA und Australien läuft das besser.
Entscheidend ist auch: Welches Bild von Autismus habe ich in mir? Ist es das medizinische, defizitäre Bild? Oder eben das Bild einer anderen Wahrnehmung, eines anderen Denkens, Empfindens, Kommunizierens und im-Kontakt-Seins? Es braucht vor allem erst einmal ein Reframing des autistischen Seins, das als anders, nicht besser oder schlechter akzeptiert wird.
„Eltern müssen für jede Unterstützung kämpfen und sind häufig am Ende ihrer Kräfte.“
Frage: Sind die Lehrkräfte denn ausreichend qualifiziert, um auf autistische Kinder angemessen eingehen zu können?
Meer-Walter: In jedem Bundesland – mit Ausnahme des Saarlands – gibt es Autismus-Fachberater, die die Schulen und Eltern unterstützen. Doch das führt nur in Einzelfällen zu einer Verbesserung der schulischen Situation. Häufig vertreten die Fachkräfte selbst ein sehr defizitorientiertes Bild von Autismus. Sie erwarten, dass die autistischen Kinder sich anpassen. Das schadet den Kindern aber mehr als es nützt.
Das fehlende Verständnis für Autismus und der Kostendruck führen dazu, dass Hilfen von den Jugendämtern abgelehnt werden. Eltern müssen für jede Unterstützung kämpfen und sind häufig am Ende ihrer Kräfte.
Die Folge: Manche Kinder dürfen nicht mehr zu Schule gehen. Manchmal bringt dies ein wenig Ruhe, wenn die Kinder zuhause bleiben können. Einige Familien kämpfen sogar dafür, dass die Schulpflicht ruht und sie ihr Kind zum Beispiel selbst zuhause unterrichten dürfen.
Die ruhende Schulpflicht ist auch Voraussetzung, um eine Webschule besuchen zu können, die für viele Kinder oft der letzte Ausweg ist – der leider erst dann möglich wird, wenn sie im Regelsystem Schule schon „kaputt gespielt“ worden sind.
„Die Kinder wollen alles richtig machen, erfahren aber, dass sie falsch sind.“
Frage: Welche Folgen hat es für die Kinder, wenn sie von der Schule ausgeschlossen werden?
Meer-Walter: Die Kinder wollen in der Regel lernen, alles richtig machen und nicht auffallen. Doch sie werden den Ansprüchen trotz aller Anstrengungen nicht gerecht. Sie erfahren also, dass sie falsch sind.
So kommt es, dass Kinder schon im Grundschulalter Depressionen haben, bis hin zu suizidalen Gedanken und Handlungen. Erst dann sind viele Schulämter bereit, über eine andere Beschulung nachzudenken, zum Beispiel per Webschule.
Wenn die Kinder in der Schule nicht das Recht auf individuelle Förderung erhalten, das ihnen zusteht, können sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Das kann ihnen den Weg in einen Beruf versperren. Die Schätze, die autistische Menschen mitbringen, werden häufig nicht gehoben.
Frage: Und wie wirkt sich das auf die Familien aus?
Meer-Walter: Eltern autistischer Kinder sind ohnehin oft psychisch belastet und sozial isoliert. Wenn sie jeden Tag darauf warten müssen, dass die Schule anruft, weil sie ihr Kind wieder abholen müssen, stehen sie unter einem enormen Druck. Viele Mütter sind alleinerziehend und können in dieser Situation nicht arbeiten. Zudem ist es für die Eltern sehr schwer, an Informationen über ihre Rechte zu kommen.
Frage: Sie haben im vergangenen Jahr eine Kampagne gegen die Diskriminierung autistischer Kinder im Schulsystem durchgeführt. Was wollten Sie damit erreichen?
Meer-Walter: Ich wünsche mir eine Anlaufstelle, die unter Einbeziehung autistischer Menschen Empfehlungen zur Gestaltung von Schule entwickelt. Ziel sollte sein, dass autistische Kinder Bildungserfolg haben.
Deshalb habe ich eine Petition gestartet, die über 30.000 Mal unterschrieben wurde. Durch die Kampagne habe ich unzählige Berichte von Eltern erhalten, deren autistische Kinder an der Schule fürchterliche Erfahrungen machen mussten. Und ich habe auch viele Kontakte zu Lehrkräften und Sozialpädagogen geknüpft. Wir unterstützen uns gegenseitig und versuchen, gemeinsam politisch aktiv zu werden.

Stephanie Meer-Walter, geboren 1970 in Thuine (Emsland), war von 2002 bis 2019 als Lehrerin und Schulleiterin in NRW tätig. Erst danach bekam sie selbst eine Autismus-Diagnose. Heute bietet sie Beratungen für Schulpersonal zum Thema Autismus. Sie hat mehrere Bücher zum Thema Autismus und Schule geschrieben und veröffentlicht einen Podcast zum Thema.
Weiterführende Infos: Die Webseite von Stephanie Meer-Walter finden Sie hier.
Die Studie der Uni Oldenburg zum Schulabsentismus autistischer Kinder finden Sie hier.