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Selbstregulation als Kompetenz stärken

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Für eine neue Leitperspektive in der Bildung

Selbstregulation soll ein neuer Schwerpunkt in der Bildung sein, so sehen es Wissenschaftler der Leopoldina. In ihrem 2024 veröffentlichten Papier raten sie dazu, entsprechende Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen zu stärken. Selbstregulation unterstütze das körperliche und geistige Wohlbefinden. Das Ziel ist, Verantwortung für die eigenen inneren Zustände zu übernehmen.

Text: Marika Muster

Schulstress, Klimaangst, Depression, Pandemie und Krieg. Kinder und Jugendliche stehen heute vor großen Herausforderungen. Wissenschaftler der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, haben in einer 100-seitigen Stellungnahme erklärt, warum aus ihrer Sicht Selbstregulationskompetenzen jetzt eine entscheidende Rolle im Bildungssystem und in der gesamten Gesellschaft spielen.

Der Begriff Selbstregulation beinhaltet kognitive, emotionale, motivationale und soziale Aspekte. Zu den kognitiven Aspekten gehört, dass man die Aufmerksamkeit auf das richten kann, auf das man sie richten möchte. Sich selbst regulieren zu können, bedeutet, konstruktiv mit Emotionen umzugehen und ihnen nicht reaktiv zu folgen.

Auf der motivationalen Ebene umfasst das Konzept, sich Ziele zu setzen und eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie sie umgesetzt werden können. Die sozialen Aspekte zielen darauf ab, mit anderen Menschen, auch in größeren sozialen Zusammenhängen, so umzugehen, wie man es für wünschenswert hält. Wichtig: Im Alltag verschwimmen Begriffe wie Selbstkontrolle, Selbststeuerung und Selbstregulation; auch Achtsamkeits-Übungen gehören in diese Bereich.

Aber damit ist etwas Unterschiedliches gemeint. Professor Buchmann, Sprecher der Arbeitsgruppe „Selbstregulation“ der Leopoldina, beschreibt es so: „Selbstkontrolle erzeugt den Eindruck, als gäbe es in einem etwas Unerwünschtes, das man bändigen muss. Die Selbstregulation dagegen hat eine positive Sicht. Man nutzt seine Ressourcen für sich und andere Menschen.“

Die Vorteile sind wissenschaftlich gut belegt

Selbstregulationskompetenzen sind wichtig für ein erfülltes Leben. Sie steigern das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit, sorgen für körperliche Gesundheit und Wohlergehen. Ein positives Selbstbild führt zu mehr Resilienz, gute Aufmerksamkeit zu einer guten Bildungsfähigkeit. Ein gesunder Umgang mit Emotionen fördert das Miteinander sowie die Fähigkeit zu guten Beziehungen – in der Partnerschaft, der Familie und der gesamten Gesellschaft.

„Wenn man Studien betrachtet, sieht man bei kleinen Kindern, dass es gute Vorhersagemöglichkeiten in allen Lebensbereichen gibt“, sagt Prof. Johannes Buchmann. Psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen treten im Erwachsenenalter seltener auf, wenn Kinder schon früh Selbstregulation gelernt haben.

Auf der Grundlage jahrelanger Forschung sind sich die Experten der Leopoldina einig, dass Selbstregulation eine Fähigkeit ist, die Kinder und Jugendliche unbedingt erwerben sollten. Buchmann erklärt es so: „Die Notwendigkeit, sich selbst zu regulieren, ist größer geworden, weil junge Leute heute viel mehr Spielräume und Freiheiten haben.“

In den letzten Jahren haben außerdem psychische Erkrankungen massiv zugenommen. Experten aus diesem Themenfeld haben im Rahmen der Erarbeitung des Papiers ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Prävention schon in Kitas und Schulen stattfinden muss, damit Psychotherapeuten sich auf die Kinder und Jugendlichen konzentrieren können, die wirklich behandlungsbedürftig sind.

Vor allem junge Menschen aus armen Haushalten brauchen eine besonders gute Selbstregulation, da sie übermäßig stark belastet sind. „Solche Kinder sind mit ihren Selbstregulationsfähigkeiten schnell am Ende“, so Buchmann. „Die Ressourcen von Erziehenden fehlen oft. Gerade für Ganztagsschulen ist es daher eine große Aufgabe, kompensatorisch zu wirken.“

Menschen müssen Verantwortung für ihre inneren Zustände übernehmen

Hinzu kommt die gesellschaftliche Perspektive. In der Stellungnahme wird darauf hingewiesen, dass Selbstregulation dabei hilft, flexibel auf Veränderungen einzugehen.

„Wir müssen uns fragen, welche Optionen es angesichts von katastrophalen Situationen gibt“, sagt Buchmann. „Dafür muss in der Gesellschaft eine mentale Weiterentwicklung passieren. Menschen müssen Verantwortung für ihre Geisteszustände übernehmen. Wenn das in großem Maße geschieht, dann kann sich in der Gesellschaft etwas ändern.“

Adäquat auf Veränderungen zu reagieren, bedeutet auch, mit den Emotionen, die die Veränderungen auslösen, umgehen zu können, sich in passende Kontexte zu begeben (zum Beispiel Hilfe zu holen) und sich trotz der schwierigen Umstände auf das Wichtige zu konzentrieren.

Buchmann ist es jedoch wichtig, „dass man das nicht damit verwechselt, Probleme zu ertragen. Vielmehr geht es darum, den eigenen Wirkungskreis zu finden und handlungsfähig zu sein.“ Dafür ist es gut, sich Ziele zu setzen und Schritt für Schritt umzusetzen, statt angesichts schwieriger Situationen in einer Blockade zu verharren. Selbstregulation hat zudem etwas mit politischer Partizipation und demokratischem Mitwirken zu tun.

Menschen sollten die Chance erhalten, sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten zu entwickeln und Problemlöse- und Konfliktfähigkeiten auszubilden, um sich aktiv an Entscheidungen zu beteiligen.

Buchmann gibt dazu ein Beispiel: „Die Konfrontation mit extremen oder populistischen Meinungen setzt voraus, dass man sich davon nicht überwältigen lässt. Selbstregulierte Menschen sind in der Lage, Gruppen zu bilden, die gemeinsam gegen schädliche Entwicklungen wirksam werden können.“

Innere Arbeit reicht nicht aus

Obwohl der Schwerpunkt der Stellungnahme auf der Selbstregulation, also der inneren Arbeit mit Gedanken, Gefühlen, Zielen usw. liegt, wird gleichzeitig betont, dass es auch einen systemischen Wandel braucht. So solle etwa auch die Industrie Verantwortung übernehmen, etwa beim Thema Alkohol- und Zigarettenkonsum.

Das ist ein wichtiger Punkt. Selbstregulation zu stärken kann nicht bedeuten, gesellschaftliche Missstände zu verharmlosen oder zu tolerieren und die Verantwortung dafür an junge Menschen zu delegieren – nach dem Motto: Sieh zu, wie du in destruktiven Systemen klarkommst.

Daher gibt es auch Kritik an dem Konzept. Es bräuchte einen ethischen Rahmen, damit die Selbstregulation wirklich für gesellschaftliche Verantwortung genutzt und nicht zur Selbstoptimierung missbraucht wird, damit Unternehmen noch mehr Gewinne machen.
Trotzdem ist es kein Widerspruch, die eigene Widerstandskraft zu stärken und gleichzeitig auf gesellschaftliche Veränderungen zu drängen.

Wie kann die konkrete Umsetzung gelingen?

Die Stellungnahme der Leopoldina bezieht nicht nur Kinder und Jugendliche ein, sondern alle Ebenen der Gesellschaft. Laut den Wissenschaftlern sollte Selbstregulation zu einer neuen Leitperspektive im Bildungssystem werden. Erste Gespräche mit Ministerien verschiedener Bundesländer laufen bereits. Auch Lehrpläne sollen nach Meinung der Experten entsprechend überarbeitet werden.

Zur Umsetzung in Schulen wird das „selbstregulierende Lernen“ für wichtig erachtet. Schülerinnen und Schüler können dabei in einer förderlichen Entwicklungs- und Lernumgebung die eigenen Interessen entdecken, ihre Potenziale entfalten, Themen und Übungen individuell wählen und im eigenen Tempo bearbeiten.

Lehrkräfte werden dann zu Lernbegleitern. Auch Meditationen und andere Achtsamkeitstechniken können in den Unterricht integriert werden, um die Selbstregulation und die Atmosphäre in Schulen zu verbessern. Darüber hinaus braucht es qualifiziertes und wertschätzendes Bildungspersonal. Daher soll Selbstregulation in der Ausbildung von Erziehern und Lehrkräften eingebracht werden.

Das beinhaltet auch ein Verständnis für psychische Gesundheitskompetenzen. In der Stellungnahme werden konkrete Projekte genannt, die bereits wissenschaftlich evaluiert sind. Als ehemaliger Mathe- und Physik-Gymnasiallehrer in verschiedenen Schulformen, Hochschullehrer und MBSR-Trainer findet Buchmann, dass man sich von solchen Programmen inspirieren lassen kann, um dann etwas Eigenes daraus zu machen.

Was es (noch) nicht gibt, ist ein pädagogischer Rahmen für Erzieher und Lehrkräfte, um mit dem komplexen Ansatz konkret zu arbeiten. Stand jetzt wäre es dem Bildungspersonal selbst überlassen, was aus dem großen Feld an Möglichkeiten verwendet wird. Um eine Evaluation und Weiterentwicklung von Maßnahmen in Kitas und Schulen gewährleisten zu können, schlägt die Arbeitsgruppe vor, dass das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) oder eine anderes Bildungsinstitution Indikatoren entwickelt, um Selbstregulation zu messen.

Die Leopoldina-Arbeitsgruppe hat sich außerdem vorgenommen, bestehende Akteure in dem Themenfeld miteinander zu vernetzen, um schneller und breiter wirken zu können. Schon jetzt ist die Resonanz auf die Stellungnahme groß. Buchmann: „Wir konnten einen Stein ins Wasser werfen, der jetzt Wellen schlägt. Das ist ein großer Shift im Bildungssystem.“

Zum Papier der Leopoldina

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Foto: privat
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Marika Muster

hat Germanistik, Deutsch als Fremdsprache und Psychologie studiert. Die gelernte Journalistin arbeitet außerdem als Achtsamkeitstrainerin und Transformationsbegleiterin in Schulen. www.schulfach-achtsamkeit.de

 

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