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Sexualität als Lernprozess

astarot/ shutterstock.com
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Einen gemeinsamen Weg der Liebe gehen

Sexualität ist Ausdruck unserer Lebendigkeit. Doch wie können wir in einer übersexualisierten Kultur gut und achtsam mit sexuellen Kräften umgehen und Zugang zu tieferen Bedürfnissen finden? Der Psychologe Joachim Wetzky gibt Anregungen. Am Anfang steht für ihn die aufrichtige Kommunikation der Partner, der Partnerin.

Für die meisten Menschen ist Sexualität eine sehr bewegende Angelegenheit. Nur wenigen Dingen wohnt die Kraft inne, für so viel Unruhe, Erschütterung und Zusammenbrüche zu sorgen. Und es erfordert ein ganzes Leben, um diese gewaltige Urkraft zu bändigen und zu integrieren.

Sex ist der Urtrieb des Menschen. Sex ist die Sehnsucht nach Verschmelzung mit der Schöpfung. Er ist die Möglichkeit, Kontrolle aufzugeben, um pure Ekstase zu erfahren. Sex ist zugleich der Bereich, an dem oftmals Missbrauch und Benutzung geschieht. Er kann dazu dienen, die höchsten Wonnen der Freude zu erfahren oder aber die tiefsten Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen. Sex ist definitiv nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Und es gehört zu den großen und dringlichen Aufgaben unserer Kultur, mit dieser überbordenden Kraft umgehen zu lernen.

Wir leben in einer Sex-Kultur

Wir leben in einer übersexualisierten Kultur. Auf 12 Prozent aller derzeit existierenden Webseiten werden pornografische Inhalte dargestellt. Laut einer Untersuchung sind jede Sekunde knapp 30.000 Menschen mit dem Konsum von Internetpornografie beschäftigt.

Doch während in den Medien Sexualität immer offensiver und tabuloser zur Schau gestellt wird, sinkt bei einem großen Teil der Bevölkerung die Zufriedenheit mit dem eigenen Liebesleben. In Deutschland empfindet beispielsweise über 50 Prozent der Bevölkerung ihre Sexualität als nicht erfüllend. Doch aus paartherapeutischer Sicht ist eine erfüllende Sexualität ein wichtiger Bestandteil einer Beziehung.

Sexualität kann als einer der großen Urtriebe der Menschen angesehen werden, der sich – ebenso wie die Bedürfnisse nach Nahrung und sozialem Zusammenhalt – nicht dauerhaft negieren lässt. Zudem befriedigt Sexualität viele seelische Bedürfnisse des Menschen, wie etwa Nähe, sich-geliebt-Fühlen, Zärtlichkeit und Anerkennung (s. dazu Heyne, Felicitas. Fremdenverkehr: Warum wir so viel über Sex reden und trotzdem keinen mehr haben. Goldmann, 2012).

Doch welche Auswege gibt es, um diesem Missklang in unserer Sexualität zu begegnen? Es hilft, sich einmal vor Augen zu halten, dass jede bedeutende menschliche Errungenschaft in einem Lernprozess weitergegeben wird. Sei es das Musizieren, das Erlernen von Mathematik oder dem Autofahren: Alles wird in einem Lernprozess vermittelt und übertragen.

Der Missklang in unserer Sexualität ist demzufolge auch ein Mangel an inspirierter Theorie und Praxis. Junge Menschen bekommen in der Regel weder von ihrem Elternhaus noch von kulturellen Einrichtungen eine profunde Einführung in diese komplexe Angelegenheit. Stattdessen wird von ihnen erwartet, „es“ von alleine zu können, so als ob der Trieb des Menschen alleine ausreiche, um zu einem zärtlichen Liebhaber, einer erfüllten Liebhaberin zu werden. Es braucht also Lehrer und Lehrerinnen in unserer Kultur, die die tieferen und ethischen Dimensionen der Sexualität lehren und verkörpern. Doch was sind diese tieferen Dimensionen?

Erfüllung finden durch Achtsamkeit und Hingabe

Für den amerikanischen Autor David Deida ist die wichtige Fähigkeit, die wir lernen müssen, um eine erfüllende, sexuelle Kunstfertigkeit zu erlangen, die Praxis der Liebe, Offenheit und Hingabe: „Hingabe bedeutet Liebe ohne Grenzen. Es bedeutet, deinen Schutzpanzer zu lockern, damit dein Liebhaber deinen Wesenskern spüren kann – authentisch, unverdeckt und unverteidigt. Deine Muskeln entspannen sich. Dein Atem wird sanft und voll. Dein Körper und dein Herz sind bereit, sich deinem/deiner Geliebten zu öffnen.“ (David Deida. Sex als Gebet: Leitfaden für Frauen und Männer zu ekstatischer Liebe und Leidenschaft. Kamphausen Verlag, 2012)

Ebenso heilsam ist die Einsicht, „dass Körper und Geist eins sind“ und wir daher entschlossen sein sollten, „geeignete Wege zu erlernen, um gut mit unserer sexuellen Energie umzugehen und die vier grundlegenden Elemente wahrer Liebe – liebevolle Güte, Mitgefühl, Freude und Unvoreingenommenheit – zu entwickeln, sodass mein eigenes Glück und das Glück von anderen wachsen kann. Indem wir wahre Liebe üben, werden wir auf sehr schöne Weise in die Zukunft fortbestehen“, wie es der Zen-Meister Thich Nhat Hanh formuliert ( Verantwortlicher Umgang mit Sexualität. Fragen und Antworten mit Thich Nhat Hanh. Intersein 1/2004)

Im traditionellen Judentum geht es darum, die Körperlichkeit in das alltägliche Leben zu integrieren, indem eine geheiligte Sexualität praktiziert wird. So schreibt schon Rabbi Nachmanides im 13. Jahrhundert: „Wenn ein Mann seiner Frau in Heiligkeit anhängt, manifestiert sich die göttliche Gegenwart. Im Mysterium von Mann und Frau ist Gott. Wenn sie aber nur erregt sind, verlässt sie die göttliche Gegenwart, und es entsteht Feuer.“

Aus diesem Grund ist es in der Sexualität besonders wichtig, sie nicht auf die heiße Leidenschaft zu reduzieren und eine gewisse Kühle zu bewahren. Diese hilft dabei, präsent zu bleiben, achtsam zu sein und sich einem gemeinsamen Miteinander, einem gemeinsamen Weg der Liebe zu öffnen.

„Heiße Sexualität“, also starke Erregungszustände, veranlassen uns, die Gegenwart zu verlassen, um auf ein Ereignis in der Zukunft – den Orgasmus – „hinzuarbeiten“. Fälschlicherweise wird diese starke Erregungsphase als wahre Leidenschaft interpretiert, anstatt sie einfach als das zu sehen, was sie ist: eine Entladung angesammelter Körperspannung.

Die Sprache der Liebe

Der Beginn eines gemeinsamen Weges beginnt meiner Ansicht nach mit einer aufrechten und ehrlichen Kommunikation. Durch meine Tätigkeit als Psychologe ist mir vertraut, dass viele Paare enorme Schwierigkeiten haben, ihrem Partner oder ihrer Partnerin aufrichtig gegenüber ihren emotionalen und sexuellen Wünschen zu sein. Gerade in Bezug auf ihre Sexualität sind Menschen äußerst unsicher und verletzlich. Nicht wenige Paare gewöhnen sich in ihrer Sexualität eine mechanische Routine an, die es ihnen scheinbar erlaubt, nicht über ihre Wünsche und Sehnsüchte sprechen zu müssen.

Die einfache Praxis der Achtsamkeit auf den Körper kann dazu beitragen, körperliche Phänomene und Bedürfnisse erst einmal kennenzulernen und dann offen und frei darüber sprechen zu lernen. Es kann sich so befreiend anfühlen, seinen Körper wahrzunehmen und diese direkte Erfahrung mit seinem Partner oder seiner Partnerin zu teilen! Später kann diese Form der Kommunikation auch während des Liebemachens praktiziert werden. Dies ist ein Schlüssel auf dem Weg zu einer erfüllenden Sexualität, die auf Vertrauen, Offenheit und Ehrlichkeit basiert.

Verantwortung übernehmen heißt im Raum der Sexualität, sich dem Partner zu zeigen, sich verletzlich zu machen und etwas von sich preiszugeben. Ein Leben auf der Basis von Vertrauen zu führen ist nicht leicht – es erfordert den Mut, sich mitzuteilen, auch auf die Gefahr hin, abgelehnt oder nicht verstanden zu werden. Doch ohne eine echte und wahre Kommunikation bleibt Sexualität oftmals nur an der Oberfläche, sie verharrt im engen Raum der gemeinsamen Komfortzone. Sexualität ohne authentische Kommunikation läuft deshalb ständig Gefahr, abzustumpfen, anstatt einen gemeinsamen Raum des immer tieferen Verstehens und des Austauschs zu schaffen.

Doch verständlicherweise fällt das freie Sprechen über die eigenen Bedürfnisse und
die eigene Lust vielen Menschen recht schwer. Eine konservative und schambesetzte elterliche Erziehung führte dazu, die Lust am Leben und der Sinnlichkeit nicht mehr als eine unschuldige und erquickende Erfahrung zu erleben. Stattdessen wurde dieser ursprüngliche, emotionale Selbst-Ausdruck unterbunden oder gar bestraft. Und so kommt es, dass der ursprüngliche Fluss der Lebensenergie keinen spontanen und natürlichen Ausdruck mehr erfahren kann – die sexuelle Energie stagniert und wird mit einem Tabu belegt. Aus diesem Grund sind viele Menschen gehemmt, wenn es darum geht, über ihre körperliche Lust zu sprechen.

Erst vor kurzem habe ich mich mit einer Lehrerin unterhalten, die beklagte, dass es immer noch so viele Lehrer gibt, die nicht frei und offen in ihren Klassen über Sexualität sprechen können. Die Scham ist einfach zu groß.

Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Nacktheit, den eigenen sinnlichen Bedürfnissen, den inneren animalischen Aspekten des Seins erscheint unumgänglich, um dieses Tabu, diese Scham zu überwinden. Lektüre über authentische Sexualität, Tantra-Massagen oder Gespräche mit anderen können dabei helfen, sich mit der eigenen sexuellen Scham zu konfrontieren. Im öffentlichen Fernsehen gibt es beispielsweise die Fernseh-Serie „Make Love“, die auf entspannte und konkrete Art das Phänomen Sexualität präsentiert und auch Paaren die Gelegenheit gibt, über ihre eigene Form der Körperlichkeit zu reflektieren.

Gesund Sexkultur entwickeln

Ich bin oft schockiert darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit heute, selbst junge Menschen, sich einer Form der Sexualität ergeben, die wir Porno-Sexualität nennen können. Angeregt durch unzählige, frei im Internet verfügbare Clips, breitet sich seit Jahren eine rein mechanische und gefühlsarme Form der Sexualität aus. „Liebemachen“ wird dabei immer weniger als der intime Akt zwischen Menschen, die sich lieben, verstanden. Wer sich einmal auf den gängigen Kanälen umsieht, wird mit einer gefühlskalten, rohen und orgasmusfixierten Sexualität konfrontiert, die meines Erachtens Schäden an Geist und Seele bewirkt.

Es ist daher für das Gesunden unserer Sexualkultur äußerst bedeutsam, auf die Unerfülltheit und auch die Gefahren der Porno-Sexualität hinzuweisen und darüber hinaus, Alternativen einer heilsamen und tiefgründigen Sexualität aufzuzeigen.

Denn es gibt eine berechtigte, klösterliche Kritik an der Sexualität: Laue, triviale Sexualität führt die Seele in einen Zustand des Trübsinns, der Trägheit sowie der Unfähigkeit im Augenblick zu leben. Sie führt in eine gefährliche phantasmische Welt der Lust und inneren Bilder, die im Grunde nur zu frustrierten Begehrlichkeiten, Traurigkeit und Groll führen. Für viele christliche Mystiker begegnen wir hier dem gefährlichsten inneren Dämon des Menschen, der nicht nur einzelne Seelenanteile bekämpft, wie es Anselm Grün formuliert, sondern die ganze Seele lahmlegen kann.

Das Kloster weiß um diese allergrößte Gefahr und verbannt die Sexualität komplett aus seinem Wirkungskreis, um auf diese Weise in der Seele des Menschen ein kontinuierliches Brennen, ein konstantes Begehren für Gott, den Buddha, die Liebe zu entfachen.

Doch inmitten der postmodernen Geschäftigkeit unseres jetzigen Lebens ist der Zölibat, gerade ohne die dafür notwendigen Techniken der Sublimation und Transformation, nahezu unmöglich zu praktizieren.

Ob wir wollen oder nicht – wir müssen der Sexualität einen Platz einräumen, uns mit dem Trieb arrangieren, ihn gar als Geschenk und Gnade des Lebens willkommen heißen. Ulrike Nagel ist beispielsweise der Ansicht, dass körperliche Liebe ein Weg zu Gott sein kann, einem Gott, an den man nicht glauben muss, sondern einem, der gewissermaßen „machbar“ ist.

Dann werde Sex zu Meditation, und die Einsicht manifestiert sich, dass die göttliche Liebe hart errungen werden möchte und dass es Aufgabe der Männer ist, Frauen wirklich zu lieben und zu ehren und ihre Männlichkeit in den Dienst der Liebe zu stellen. Und dass es Aufgabe der Frauen ist, ihre unberechenbaren Emotionen loszulassen und für das Prinzip der Liebe gerade zu stehen und über eine rein persönliche Liebe hinauszuwachsen. Und so kommt es, schreibt Nagel, dass Sexualität für sie und ihren Mann wie eine Meditation, ein Verschmelzen ohne jedes Ziel ist, als falle man gemeinsam in das Nichts (Ulli Nagel. Sex, Liebe und die Suche nach Sinn – Eine Pilgerreise mit Umwegen. Kamphausen, 2014).

Sexualität ist dann ein Weg in eine heilige Intimität, die es uns ermöglicht, uns als ganze, verletzbare Wesen gegenüberzustehen und uns zu offenbaren und zu zeigen. Denn, machen wir uns nichts vor, wir stehen noch ganz am Anfang, um das kostbare Geschenk der Sexualität in ihrem ganzen Umfang zu verstehen, geschweige denn davon, es auszupacken.

Joachim WetzkyJoachim Wetzky ist Dipl.-Psychologe und arbeitet mit jugendlichen Flüchtlingen. Er ist Achtsamkeitstrainer, Integraler Coach und Autor des Buches “iBuddhismus” (Steinrich, 2012) www.iBuddhismus.blogspot.com

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Damit wir Sexualität als eben solch eine Kostbarkeit erkennen und erfahren können und diese für nachfolgende Generationen zu einem gesunden Bestandteil im Miteinander werden kann, sollten wir dieses Thema zunehmend mit genau solch einer Transparenz und Ganzheitlichkeit wie in diesem wegweisenden Artikel betrachten.
Da geht’s lang, danke.

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