Wie man öffentliche Räume menschenfreudlich gestalten kann
Autos dominieren die Städte. Doch ist das gerecht? Mit einem Gedankenexperiment des Philosophen John Rawls zeigt die Autorin, wie wir den öffentlichen Raum gerecht und zum Wohler aller gestalten könnten – für mehr Lebensqualität und bessere Luft.
Text: Ines Eckermann
Kopenhagen macht es längst vor: Menschen radeln im Business-Outfit zur Arbeit, Eltern bringen ihren Nachwuchs mit dem Lastenrad zur Kita, Ältere radeln gemütlich durch die Grünanlagen und halten an, um ein Schwätzchen zu halten. Kein Verkehrslärm, keine Abgase. Die Stadt der Zukunft gibt es schon, wenn auch nur an wenigen Orten auf der Welt.
In Deutschland dagegen gilt immer noch die Vorherrschaft des Autos. Hierzulande fahren heute fast doppelt so viele Autos wie noch vor vierzig Jahren, meist mit nur einer Person. Städteplanende und Zukunftsforschende sind sich längst einig: Das Auto ist ein ineffizientes Verkehrsmittel, denn die meiste Zeit steht das Gefährt in der Gegend herum und nimmt allen anderen Platz weg. Selbst ein Auto, das nur in der Garage parkt, frisst den Raum, den man in überlaufenen Städten in Wohnfläche umwandeln könnte.
Passionierte Autofahrende und die Autoindustrie haben ein Interesse daran, dass der Pkw seine Vormachtstellung behält. Doch das ist nicht gerecht, denn es gibt viele Menschen, die kein Auto haben, die es vorziehen zu radeln oder zu Fuß unterwegs zu sein. Ist es nicht eine absurde Idee, Städte nur nach den Interessen der Autoindustrie auszurichten?
Rawls und der Schleier des Nicht-Wissens
Die Frage berührt auch das Thema Gerechtigkeit im öffentlichen Raum. Der Philosoph John Rawls (1921-2002) überlegte sich in den siebziger Jahren ein Gedankenexperiment für ein gerechtes Gesellschaftssystem, das sich auf alle moralischen Überlegungen übertragen lässt: den Schleier des Nichtwissens.
Damit meinte Rawls, dass wir politische und soziale Strukturen immer so gestalten sollten, als wüssten wir nicht, an welcher Stelle wir später selbst in dem geschaffenen System stehen. Werden wir reich oder arm sein, alt oder jung, werden wir in der Stadt oder auf dem Land leben, Auto fahren – oder eben nicht?
Wenn zwischen uns und der Antwort auf diese Fragen der Schleier des Nichtwissens liegt, so glaubte Rawls, werden wir gerechtere Pläne schmieden und bessere Gesellschaften planen. Hinter dem Schleier sind erst mal alle gleich. Und nur wer von dieser abstrakten Gleichheit ausgeht, kann gesellschaftliche Entscheidungen unparteiisch treffen. Das betrifft auch die Städte- und Verkehrsplanung.
Der Platz in den Städten ist ungleich verteilt
Klar, jenseits philosophischer Gedankenspiele werden wir nicht einfach in die Kaste der Radfahrer geboren. Wir entscheiden uns meistens bewusst für das eine oder das andere Verkehrsmittel.
Dennoch: Wer den Führerschein verliert, wird plötzlich feststellen, dass breitere Radwege eigentlich schon immer eine gute Idee gewesen wären. Wer umgekehrt, beispielsweise aus beruflichen Gründen, plötzlich viel im Auto sitzt, wird sich fragen, warum er plötzlich so häufig an der Ampel steht, um Fußgänger über die Straße zu lassen.
Viele von uns wechseln außerdem jeden Tag mehrfach das Verkehrsmittel: Wir parken das Auto, steigen in den Zug bis zur nächsten Stadt und weiter mit der U-Bahn, die letzten Meter geht es zu Fuß weiter. Abends nehmen wir schnell das Lastenrad, um einen Einkauf zu erledigen. Jedes dieser Verkehrsmittel konkurriert mit anderen; jedes davon sollte deshalb seinen gerechten Anteil am Verkehr bekommen.
Rawls war überzeugt: Ungleichheiten sind willkürlich. Momentan herrscht Willkür auf den Straßen, denn der Platz ist ungleich verteilt. Das Auto nimmt nicht nur unverhältnismäßig viel Platz auf unseren Straßen ein – sondern auch in manchen Köpfen.
Kaum ein eingefleischter Autofahrer kann sich ein Leben ohne Metallkarosse um sich vorstellen. Auf dem Land, wo die öffentlichen Verkehrsmittel ein ganz eigenes Problem darstellen, steht die Notwenigkeit eines Autos außer Frage. Doch in den Städten würde der Schleier des Nichtwissens wohl ganz andere Strukturen hervorbringen, als wir sie bisher vorfinden.
Mehr Raum für Menschen, die zu Fuß unterwegs sind
Um auch überzeugte Autofahrer in ein öffentliches Verkehrsmittel zu locken, müssen diese mehr Luxus bieten und leichter zu nutzen sein. Dazu müssten Städte und Verkehrsbetriebe vernetzt denken und handeln, sind Forschende sicher.
Das Stichwort dahinter lautet Multimodalität. Dann brauchen wir nicht zig Apps, Tarife und Tickets. Wir kaufen nur noch ein einziges Ticket. Damit steigen wir erst in den Bus, fahren dann mit dem ICE in die nächste Stadt, um dort von einem Sammeltaxi ans Ziel gebracht zu werden. Mit einem Fahrschein, zu einem günstigen Preis. Man könnte den Nahverkehr sogar kostenlos machen, in Luxemburg und Augsburg wird das bald Realität.
Doch nicht nur längere Strecken müssen komfortabler zu bewältigen sein. Wer nicht in die Ferne schweifen will, soll das Gute zu Fuß finden. Den Fuß-Verkehr angenehmer zu machen, kann Städteplanende allerdings ganz schön herausfordern. Denn dabei geht es nicht nur darum, von A nach B zu kommen. Es muss auch Raum zum Verweilen geben oder zum Ausruhen für Menschen, die nicht gut zu fuß sind.
Mehr Leichtigkeit und Flexibilität
Eine fußgängerfreundliche Stadt ist auch eine smarte Stadt. Sie hat deshalb breite Wege, sonst ist Ärger programmiert – schließlich denken die wenigsten Verkehrsteilnehmer regelmäßig über die andere Seite des rawlschen Schleiers nach.
Die Wege sind gesäumt von Bänken zum Ausruhen oder zum Plausch mit Freunden. Und auch die Fassaden sollten die Menschen in Fußgänger verwandeln: Abwechslungsreiche Häuserfronten, kreative Boutiquen und Cafés machen den Spaziergang zu einem kleinen Erlebnis.
In der Stockholmer U-Bahn haben clevere Erfinder bereits mit spielerischen Elementen experimentiert und beispielsweise Treppen mit schwarz-weißer Folie und Drucksensoren in riesige Klaviere verwandelt.
Das Ergebnis: Viel mehr Leute gingen lieber zu Fuß und spielten dabei ein Ständchen, statt die danebenliegende Rolltreppe zu nutzen. Leichtigkeit und Flexibilität sind die Zauberworte der utopischen Stadt. Die Vorherrschaft des Autos sollte idealerweise bald schlaueren, gerechteren Ansätzen weichen.
Mehr Luxus für Radelnde
Damit Radfahren nicht nur gesund, sondern auch bequem im Alltag möglich ist, sollten Busse und Bahnen die Fahrradmitnahme in ihrer Planung gleich mitbedenken. Und am Ende der Fahrt warten Fahrradparkhäuser, wo das Rad sicher geparkt wird. In einigen Städten wie Kopenhagen und Amsterdam gibt es diese bereits.
Auch die Autobesitzer selbst müssen gedanklich umparken. Das Auto sollte wieder ein reiner Gebrauchsgegenstand werden. Dann können sich auch nachhaltigere Konzepte wie Car Sharing eher durchsetzen.
Aktuell werden Leihautos eher zusätzlich zum eigenen Auto und nicht stattdessen verwendet. Wirklich nachhaltig wird Car Sharing erst, wenn mehrere Menschen in einem Auto sitzen und das Auto so häufig wie möglich genutzt und nur selten geparkt wird.
Wenn Städteplanende sich für einen kurzen Moment die Augen mit dem Schleier des Nichtwissens verbinden, könnte das traurige, zugeparkte Grau bald ein Ende haben und die Stadtbewohnenden schon bald gemütlich in den Sonnenuntergang spazieren.