Ein Wisssensbuch, poetisch geschrieben
Die intensive Beschäftigung mit Pflanzen kann Lebensmut zurückbringen: Hier gibt es Wachstum und Schöpfung statt Destruktion und Niedergang. Ein Buch über ungeahnte Möglichkeiten des Lebens und die Wunder der Natur, basierend auf aktueller Forschung.
Text: Ulrich Schnabel
Für Zoë Schlanger war ihr Buch geradezu lebensrettend. Jahrelang hatte die kanadische Wissenschaftsjournalistin über den Klimawandel und die unzureichende Klimapolitik berichtet und stand kurz vor der Verzweiflung. “Taub und leer” fühlte sie sich und versuchte, ihre “erschöpfte apokalyptische Aufmerksamkeit” in andere Bahnen zu lenken.
Da begann sie, sich mit der Erforschung der Pflanzenwelt zu beschäftigen. Denn die erschien ihr als genaues Gegenteil ihres bisherigen Themas: Wachstum statt Niedergang, Schöpfung statt Verderben. Und je mehr sie sich in die Wunder des pflanzlichen Verhaltens vertiefte, um so mehr staunte sie. Am Ende entwickelte sie gar ein ganz neues “Verständnis dessen, was Leben bedeutet und welche Möglichkeiten es bietet”.
In ihrem Buch “Die Lichtwandler” nimmt Schlanger nun die Leser mit auf ihre Reise. Und tatsächlich: Je mehr man liest, um so mehr sieht man die Natur mit anderen Augen. Denn für gewöhnlich sind wir alle Opfer der “Pflanzenblindheit”, wie Forscher das nennen: Weil Pflanzen nicht umherlaufen, tendieren wir dazu, sie als unbelebt anzusehen, als stummes, ununterscheidbares Grünzeug – und nicht als eine Ansammlung fragiler Individuen.
Erstauliche Fähigkeiten von Pflanzen
“Die pflanzliche Lebensweise”, schreibt Schlanger, „ist soweit von der unseren entfernt, dass wir uns oft nicht einmal recht vorzustellen vermögen, dass sie überhaupt so etwas wie eine Lebensweise haben.“
Doch sie haben eine eigene Lebensweise – und was für eine! Dazu haben Forscherinnen und Forscher in den vergangenen Jahren eine Vielzahl erstaunlicher Erkenntnisse zusammengetragen – von der Kommunikation der Pflanzen, über ihre Fähigkeiten, Formen und Töne wahrnehmen, Entscheidungen zu treffen oder zu lernen – die Schlanger ausführlich und kenntnisreich schildert.
Dabei besucht und begleitet sie Pflanzenforscher an den entlegensten Orten der Welt – etwa auf der hawaiianischen Insel Kauai, wo sich eine bizarre Flora herausgebildet hat, die es nur hier so gibt . Hier hatte sich der Botaniker Steve Perlman an Steilwänden abgeseilt, um 1200 Meter über dem Talgrund die seltene Vulkanpalme zu retten.
Dieses Gewächs, Brighamia insignis, sieht aus wie ein Kohlkopf auf einem Stock und hat sich über Jahrzehntausende so entwickelt, dass ihre Blüten ausschließlich von der extrem seltenen Grünen Sphinx-Motte bestäubt werden können. Doch weil diese bedroht ist, kommt Perlman mit dem Kosmetikpinsel seiner Frau, um die Vulkanpalme in luftiger Höhe von Hand zu bestäuben.
Sind Pflanzen intelligent?
Oder sie begleitet in der kalifornischen Wüste den US-Entomologen Richard Karban, der die Kommunikation von Pflanzen erforscht. Schon länger weiß man, dass sie sich zum Beispiel durch chemische Signale gegen Feinde wehren. Werden sie von Raupen attackiert, verströmen manche Pflanzen Chemikalien, die wiederum die Freßfeinde der Rapuen anlocken und zugleich ihre eigenen Artgenossen warnen.
Dabei kann die pflanzliche Reaktion sehr individuell ausfallen, wie Karban an Wüstenbeifußsträuchen nachwies: manche Sträucher sondern bei der kleinsten Gefahr viele Chemikalien ab, andere Exemplare derselben Sorte reagieren in derselben Situation deutlich zurückhaltender – ganz so, als gäbe es ängstliche und wagemutige Individuen.
Noch verblüffender ist die Reaktion der anderen Sträucher: auf die Signale der “ängstlichen” Beifüße reagieren sie kaum, auf die der „mutigen“ dagegen umso stärker – als „wüssten“ die Sträucher, wen sie ernst nehmen müssen und wen nicht.
Aber sind solche Begriffe angemessen? Kann man bei Pflanzen tatsächlich von “Angst” und “Mut” sprechen, von Persönlichkeit oder Intelligenz, wie es manche Botaniker tun? Um solche Fragen tobt in der Wissenschaft derzeit eine heftige Debatte.
Die eine Seite ist überzeugt, dass man angesichts all der neuen, aufregenden Erkenntnisse den Pflanzen eine eigene Art von Intelligenz oder Bewusstsein zubilligen muss. Die andere Seite hält das für Quatsch und argumentiert, das pflanzliche Verhalten sei genetisch festgelegt und folge rein physikalisch-chemischen Gesetzen.
Ohne Pflanzen könnten wir nicht leben
Schlanger schildert diese Debatte unvoreingenommen und kenntnisreich. Anders als etwa der Bestsellerautor Peter Wohlleben (“Das geheime Leben der Bäume”) tappt sie auch nicht in die Falle des Anthropozentrismus. Während Wohlleben gern von „Baumeltern“ und „ihren Kindern“ spricht, oder die Versorgung von Sämlingen mit Zuckerlösung als „Stillen“ durch einen „Mutterbaum“ bezeichnet, hütet sich Schlanger vor solch falscher Vermenschlichung. Bäume denken eben nicht wie Menschen, weshalb sie auch nicht arglistig oder heimtückisch agieren, wie in dem Buch „Böse Bäume“ von Markus Bennemann suggeriert.
Nein, Pflanzen sind sehr eigenständige Lebensformen, die ihre ganz eigene Klugheit im Umgang mit ihren spezifischen Herausforderungen entwickelt haben. Sie haben zwar kein Gehirn und denken sicher nicht im menschlichen Sinne. Dennoch besitzen sie offensichtlich die Fähigkeit, auf flexible Weise die Probleme zu lösen, die ihre jeweilige Existenz aufwirft.
Manche Forscher nennen das Intelligenz – auch wenn klar ist, dass dies eine ganz andere Art von Intelligenz ist, als diejenige, die wir beim Menschen mit IQ-Tests messen.
In Schlangers Buch geht es aber nicht nur um die Intelligenz-Debatte. Vor allem öffnet es den Blick für die Verwobenheit allen Lebens – die auch uns einbezieht. Denn wir können auf diesem Planeten überhaupt nur leben, weil Pflanzen vor etwa 500 Millionen Jahren die Fähigkeit entwickelten, Sonnenlicht in Energie zu verwandeln und dabei Sauerstoff und Glukose zu erzeugen.
Erst die “Lichtwandler” schufen die sauerstoffhaltige Atmosphäre unseres Planeten und ermöglichten damit unsere Existenz. Zugleich erzeugten sie all jene Nährstoffe, auf die wir bis heute angewiesen sind. Schlanger drückt das so aus: „Jeder Gedanke, der Ihnen durch den Kopf geht, wurde von Pflanzen ermöglicht“.
Wenn man sich dieses alltägliche Wunder vergegenwärtigt, kann man eine Ahnung von einer planetarischen Lebendigkeit bekommen, die weit über unser eigenes – mehr oder weniger intelligentes – Fassungsvermögen hinausgeht.
Zoë Schlanger: Die Lichtwandler. S. Fischer Verlag 2024, 442 S.