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Stiefkind Islam-Unterricht?

Foto: Tahir Osman I Unsplash
Foto: Tahir Osman I Unsplash

Das Recht auf Religionsunterricht wird nicht umgesetzt

In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Obwohl das Grundgesetz ihnen islamischen Religionsunterrichtet garantiert – ähnlich Schülern mit evangelischer, jüdischer oder katholischer Prägung – findet dieser aber praktisch kaum statt. Ein fataler Systemfehler: Denn wo sollen muslimische Jugendliche etwas über den Islam lernen?

Text: Deniz Cicek-Görkem

Religionsunterricht in Deutschland ist – mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen – ein ordentliches Lehrfach. Doch während es ein bundeseinheitliches Angebot für katholische und evangelische Schüler*innen gibt, könnte die Situation für muslimische Schüler*innen nicht unübersichtlicher sein.

Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich oder Portugal ist Deutschland laut Verfassung nicht laizistisch. Der Staat hat zwar keine Religion im offiziellen Sinne, doch arbeitet er mit den Religionsgemeinschaften zusammen.

So unterstützt er religiöse Institutionen finanziell und organisatorisch, beispielsweise durch das Einziehen von Kirchensteuern und die Bereitstellung von Religionsunterricht. Religiöse Feiertage sind gesetzlich anerkannt, und religiöse Elemente manchmal auch in staatlichen Zeremonien präsent.

Eine absolute Trennung der kulturellen und religiösen Werte war in Deutschland nach 1945 nicht erwünscht. Hintergrund war die nationalsozialistische Ideologie, die die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt auslöschen wollte.

Nach dem NS-Regime wurde daher festgelegt, dass kulturelle Diversität sehr wichtig für die persönliche Freiheit und die individuelle Lebensführung der Bürgerinnen und Bürger ist. Daher sprechen Historiker häufig auch von einer „hinkenden Trennung“ zwischen Staat und Kirchen in Deutschland.

Regelungen in den Bundesländern

Heute wird Islam an manchen Schulen als eigenes Lehrfach unterrichtet, aber nicht flächendeckend. Der fehlende Islamunterricht ist für Experten wie Rolf Haßelkus von der Lehrergewerkschaft GEW Bonn oder Saba Nur-Cheema vom damaligen Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit allerdings ein Armutszeugnis.

So argumentiert Haßelkus, dass Islamischer Religionsunterricht TikTok-Predigten und somit Radikalisierung hin zum Islamismus uninteressant mache. Und die Expertin für Antiislamismus und Antisemismus, Saba Nur-Cheema, betont stets, dass Jugendliche ihre Religion brauchen, um gefestigte Persönlichkeiten zu werden.

Autorin Deniz Cicek-Görkem, Foto: privat

Wie aus einer Recherche des Mediendienstes Integration 2023 hervorgeht, variieren die Modelle für islamischen Religionsunterricht in Deutschland:

In Berlin erfolgt der Unterricht durch einen islamischen Landesverband, Rheinland-Pfalz und das Saarland testen Modellprojekte, Nordrhein-Westfalen sowie Baden-Württemberg arbeiten mit islamischen Partnern zusammen, Bayern, Schleswig-Holstein und Hessen bieten „Islamkunde“ in staatlicher Verantwortung.

Bremen und Hamburg bieten dagegen konfessionsübergreifenden Religionsunterricht an. In fünf östlichen Bundesländern gibt es statt islamischen Religionsunterrichts nur Fächer wie Ethik oder Philosophie. Insgesamt konnten im Jahr 2020 circa 60.000 muslimische Schüler*innen islamischen Religionsunterricht besuchen, aktuell sind es knapp 70.000.

Herausforderungen: Ausbildung und Lehrkräftemangel

Das überschaubare Wachstum – ein Zuwachs von 10.000 Schüler*innen binnen vier Jahren – wird häufig auch mit dem Problem des Lehrkräftemangels begründet. Laut einer Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK) vom Dezember 2023 fehlen 68.000 Lehrkräfte, darunter auch solche für den islamischen Religionsunterricht.

An zwölf Hoch- oder Fachhochschulen wird Islamische Theologie gelehrt, sieben Standorte davon werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Circa 2.500 Studierende sind in Bachelor- und Master- sowie in Lehramts-Studiengängen eingeschrieben.

Ein wichtiger Punkt ist auch, dass an diesen Universitäten nicht nur Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht ausgebildet werden, sondern auch Sozialarbeiter*innen und Theolog*innen, die in Moscheen und islamischen Organisationen tätig sind. Letzterer Arbeitsbereich ist im gesellschaftlichen Diskurs von besonderer Bedeutung.

Denn die Ausbildung von Imamen (den islamischen Theolog*innen in Moscheen) steht immer wieder in der Kritik. Laut einer Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung wurden etwa 90 Prozent der in Deutschland tätigen Imame im Ausland ausgebildet.

Die türkische Religionsbehörde Diyanet entsendet Imame nach Deutschland. Experten befürchten, dass die Türkei dadurch Einfluss auf deutsche Moscheegemeinden oder Verbände ausüben könnte.

Außerdem wird darauf hingewiesen, dass einige Imame nur in ihrer Muttersprache predigen und Schwierigkeiten haben (z. B. auch mangelndes Kulturverständnis), mit deutschsprachigen Moscheebesucher*innen, insbesondere jüngeren Muslim*innen, adäquat zu kommunizieren.

Daher werden Ausbildungsprogramme in Deutschland begrüßt, um etwa einen „Staatsislam“ zu vermeiden. Ende 2023 vereinbarten Deutschland und die Türkei daher, die bisherige Praxis nach und nach zu beenden und die Imame künftig in Deutschland auszubilden.

Anerkennung des Islams: Gesellschaftlich ja, rechtlich nein

Die größte Hürde dürfte jedoch sein, dass die islamischen Gemeinden zwar mehr oder weniger gesellschaftlich anerkannt sind, aber nicht rechtlich (mit Ausnahme der Ahmadiyya Muslim Jamaat).

Aktuell sind sie als Vereine registriert und organisiert, gelten gemäß dem deutschen Staatskirchenrecht aber nicht als öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaft im juristischen Sinne. Dementsprechend haben sie keinen Körperschaftsstatus. Dieser würde aber helfen, um einen strukturierten, mehr oder weniger einheitlichen islamischen Religionsunterricht zu etablieren.

Denn Religionsgesellschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) haben, genießen eine Reihe von Privilegien wie Steuererhebung von Mitgliedern, Dienstherrenfähigkeit, Rechtssetzungsbefugnis, steuerliche Begünstigungen und Vollstreckungsschutz. Diese Privilegien heben sie von anderen, vereinsrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften ab und bieten ihnen erhebliche praktische Vorteile.

Was muss geschehen?

Die islamischen Gemeinden müssten ihre Anstrengungen intensivieren, sich rechtlich als Körperschaft anerkennen zu lassen und sich mehr mit staatlichen Stellen austauschen, wie eine bessere Zusammenarbeit künftig aussehen kann.

Die Bildungsministerien und sonstigen zuständigen Behörden und Instanzen sollten sich Gedanken machen, wie Lehrkräfte entsprechend aus- oder weitergebildet werden, damit sie Schülerinnen und Schülern islamischen Religionsunterricht erteilen können.

Auch ein engerer Austausch zwischen Schulen und Moscheen könnte im ersten Schritt helfen, die Bedürfnisse aller Seiten zu verstehen und zu kommunizieren. Bis ein flächendeckender Islamunterricht eingeführt wird, sind verschiedene Handlungsschritte aller Beteiligten notwendig.

Lesen Sie auch den Meinungsbeitrag zu diesem Thema von der Autorin: Warum wir islamischen Religionsunterricht brauchen

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