Philosophische Kolumne: Stille bereitet auf das Zuhören vor
Orte der Stille suchen wir – anders als das „stille Örtchen“ – nicht um etwas loszuwerden, sondern um einzukehren bei uns selbst. Solche Einkehr ist ein wahrhaft intimer Vorgang. Sie bedarf nicht des geschlossenen Raums, sondern einer Öffnung: „sprachaufwärts“ ins Dialogische.
Wie sich lossagen vom Lärm? Oasen der Ruhe lassen sich finden, leichter jedenfalls als das, worauf es ankommt: nämlich die Stille des Geistes, die Ruhe des Gemüts, das Schweigen des Leibes. Es sei leicht, ein Fest zu veranstalten, erkannte Nietzsche, aber schwer, solche zu finden, die sich daran freuen können. So verhält sich oft mit Außen und Innen, mit Mittel und Zweck. So auch hier: es ist leicht, Orte der Stille zu finden; aber wer kommt dort wirklich zur Ruhe?
„Stille Nacht, heilige Nacht…“ – der Markt jubiliert schon. Doch gibt es auch dies: Macht der Nacht, beredte Stille, Hören über das Schweigen hinaus. In der Nacht kann Unsichtbares verschwiegen uns wecken. Mir ist gar am hellen Mittag die Einweisung in die Stille geschehn. Es war am Ufer des Chiemsees. Zurückdenkend kann ich mir kaum vorstellen, dass es für Ohr und Auge und die übrigen Sinne nichts zu empfangen gegeben haben sollte.
Aber die aufbehaltene Erfahrung des Erlebten sagt: da war tiefste Stille. Um mich und in mir. Und in dieser Stille ergab sich wie von selbst eine betörende Verbundenheit. Resonanz, die sagte: „Da!“ Ich weiß heute ein meditatives Gedicht, das mein Erlebnis aus anderem Mund zur Sprache bringt:
„Der Besetzer / meiner Stundenhäuser / treibt mir / in seiner Liebeslist / aus meinem Tag / die ganze Zeit. / Jetzt sind wir / stundenlos / zusammen.“ (Silja Walter)
Wie lange diese Zeitlosigkeit, für die es keine Uhren gibt, „gedauert“ haben mag, weiß ich nicht. Sollten es auch nur Sekunden gewesen sein, das Fenster ins Ewige stand lange genug offen, um durch ein ganzes Erdenleben zu tragen.
Andere Stille-Erfahrungen könnte ich noch berichten, erzählen von tanzenden Schneeflocken im verschneiten Hof, der Schnee wie ein Dämpfer den Schall schluckend, vor Mitternacht noch, den langen Winterabend heimholend.
Oder eine Herbstfrühe, wo die Sonne lautlos den dünnen Nebel von der Wiese nimmt und der Morgentau tanzt… Immer verwandelt sich das Schweigen schließlich in Anrede.
Worauf müssen wir uns gefasst machen, wenn es wieder heißt: „Stille Nacht, heilige Nacht…“? Dass wir versucht sind, einzuwilligen in Bewegendes, das nur äußerlich macht?
Die Selbstbewegung in die Richtung der eigenen Mitte verlangt Abstand – um des Selbststandes willen. Nicht nur, dass die Du-Qualität des Kosmos nur in der Stille erfasst werden kann. Auch die Eigenstimme der anderen können nur eindringen in den Hörer, der wirklich hört, von der anderen Seite aus.
Jean Luc Nancy fragt: „Hören und zuhören, lauschen, ist die Philosophie dessen fähig? Wäre der Philosoph nicht jener, der stets vernimmt und alles versteht, der aber nicht hören kann, oder genauer, der das Hören in sich neutralisiert, um philosophieren zu können?“
Nacht steht für mich dafür, eben nicht zu vermeinen zu verstehen. Hält man das aus, verdichtet sich ein An-Spruch. Damit etwas geboren werden kann – wer immer noch an Weihnachten denkt, darf es tun – bedarf es eines Hörens. Im Dunkel der Nacht Verschwiegenheit, die aufruft. Viel Helles bleibt ungesehen, wenn man nicht hört.
Dabei ist es gleich, ob, was wird, einem zukommt oder in einem entsteht. Sprachaufwärts muss es nur gehen. Daher meine Kritik an der gehörlosen Philosophie. Das Sehen wurde zum Maßstab für allen Weltzugang.
Der Geist ist dorthin gegangen, wohin der Gesichtssinn gewiesen hat. (Hans Jonas) Wie dialogisch würden wir uns aufeinander beziehen, wenn das (innere) Ohr über den Augen stünde?!
Der Sehende fasst nur auf, was in den Blick kommt, der Hörer wird verwickelt, und umso mehr, je leiser die Töne. Gerade indem er aufnimmt, wird er selbst aufgenommen in größere Zusammenhänge. Hören bedeutet: Sich-Öffnen des ganzen Menschen zur Sache.
Nicht-Sehen, sagt man, trennt uns von Dingen, Nicht-Hören trennt uns von Menschen. Das Auge führt in die Welt, durch das Ohr kommt die Welt zu uns. Der Ton nimmt durchs Verklingen mit auf eine Reise in die Stille. Und das Verklingen evoziert Schönheit.
Hören regt das Denken an, viel mehr als das Sehen. Das Sehen macht bequem und faul. Die Welt des Auges ist eine ohne Geheimnis, während sich die Welt für das Ohr in eine hintergründige weitet. Die Welt wird mit dem Auge erobert, mit dem Ohr erfahren und erlitten. Das Hören ist nicht der Sinn des Seins, aber des Werdens, des Lebens. Responsorisches Leben vollzieht sich unter dem Anspruch des Worts.
„Stille Nacht, heilige Nacht…“ – heilig, wenn Ernst Blochs Wort sich erfüllt: „Auch aus nichts wird etwas. Aber es muss in ihm zugleich angelegt sein. So lässt sich keinem etwas geben, was er nicht vorher hat. Mindestens als Wunsch hat…“
Ich weiß nicht, was Sie sich zu Weihnachten oder auch sonst zu gabeschwangeren Zeiten wünschen mögen. Ich wünsche mir nächtliche Stille, die bedeutet: weniger verstehen und besser zuhören. Lasst von Euch hören. Das klingt schöner als jedes Lied.
Thomas Gutknecht, 16. Dezember 2016