Warum wir unsere Macht bewusst anerkennen sollten
Das Thema Macht ist negativ besetzt. Dabei ist Macht zuallererst Gestaltungskraft. Eva Stützel, die gemeinschaftliche Initiativen begleitet, ruft zu mehr Bewusstheit im Umgang mit Macht auf, auch um Machtmissbrauch zu verhindern. Denn es gibt nicht nur Macht über andere und Dominanz bishin zu Gewalt, sondern auch Macht in Verbundenheit mit anderen.
Text: Eva Stützel
„Machtmissbrauch kann nicht durch Tabuisierung, sondern nur durch einen bewussten Umgang mit Macht verhindert werden.“ Eva Stützel
Macht wird häufig sehr negativ wahrgenommen. Dabei ist Macht nach vielen Lesarten erstmal die neutrale „Fähigkeit, Menschen und Situationen zu beeinflussen.“ Nicht Macht an sich ist negativ – im Gegenteil, sie ist nichts anderes als Gestaltungskraft. Aber wenn sie falsch – oder auch nur unbewusst – genutzt wird, dann kann sie viel Schaden anrichten.
Die Geschichte und aktuelle Gesellschaft ist voll von schlechten Beispielen und Traumata, die aus dem unbewussten und / oder selbst bezogenen Gebrauch der eigenen Macht resultieren. Daher resultiert der schlechte Ruf der Macht.
Wenn wir Macht als Gestaltungskraft wahrnehmen, dann wird schnell klar: Gestaltungskraft ist etwas sehr Wertvolles, eine Fähigkeit, die ein wichtiges menschliches Grundbedürfnis erfüllt, das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit.
Eltern von Kleinkindern können ein Lied davon singen, wenn Lichtschalter wieder und wieder an- und ausgeschaltet, wenn Knöpfe gedrückt werden, weil das Kind voller Freude entdeckt, dass es etwas bewirken kann mit seinen Bewegungen.
Dieses menschliche Grundbedürfnis auszuleben und dabei zu entdecken, welche Wirkung das eigene Tun hat, ist interessanterweise kaum etwas anderes als das Streben nach Macht. Warum hat Machtstreben dann so einen schlechten Ruf, wenn es doch einfach ein Grundbedürfnis erfüllt?
Macht über und Macht mit
Was zum schlechten Ruf von Macht geführt hat, ist das Verständnis von Macht als „Macht über“, das unsere Gesellschaft seit Jahrtausenden geprägt hat. Danach können die Mächtigeren zu ihrem Vorteil und nach ihrem Gutdünken über die weniger Mächtigen bestimmen. Diese Art der Machtausübung ist gefährlich, denn es fehlt dabei der Ausgleich: das Bedürfnis nach Verbundenheit.
Wenn dieses Bedürfnis in der Ausübung von Macht mitbeachtet wird, ändert sich der Umgang mit der eigenen Gestaltungskraft. Denn dann leben wir nicht nur die Gestaltungskraft von uns selbst aus, sondern setzten sie ein für das Wohl aller, mit denen wir verbunden sind. Wir achten auch darauf, dass andere ihre Gestaltungskraft entfalten können.
So entsteht ein neues Verständnis von einer integrierenden Macht, die nicht unterdrückt. Sie wird „Macht mit“ genannt. Es ist eine gemeinsam entfaltete Macht, die auf gemeinsames Wirken für eine Sache und nicht auf Zwang beruht. In jeder Interaktion gibt es eine Rangdynamik.
Das Austarieren der Bedürfnisse nach eigener Wirksamkeit und nach Verbundenheit findet in der Regel nicht bewusst statt, und doch beeinflusst es all unsere Interaktionen.
In jeder Interaktion gibt eine unterschwellige Rang-Dynamik
Die Prozessorientierte Psychologie nach Arnold Mindell hat den Begriff „Rang“ geprägt. In diesem Ansatz werden verschiedene Rang-Dimensionen unterschieden, die alle Einfluss auf unsere Fähigkeit haben, Menschen und Situationen zu beeinflussen:
Da sind etwa der soziale Rang (Status), der persönliche Rang (Kompetenzen), der psychologische Rang (Urvertrauen, Krisenerfahrungen), der Rang innerhalb einer Struktur, etwa von Organisationen, Firmen usw.
Der Begriff „Rang“ ist eng verknüpft mit dem Begriff der Privilegien, der Möglichkeiten, die eine Person hat, die andere nicht haben. Wichtig ist dabei, zu betonen dass es aufgrund der Komplexität und Viel-Dimensionalität der Rang-Thematik selten eine eindeutige Rang-Reihenfolge gibt, während die subjektive Wahrnehmung aber genau dies vorspielt.
Wir sind evolutionär darauf geprägt, in jeder Interaktion Rang-Dynamiken abzuchecken und uns einzuordnen – wie alle Tiere. Und in dieser intuitiven Einschätzung fühlen wir uns häufig ohnmächtiger als unser Gegenüber. Wie kommt das? Wir nehmen unsere Privilegien in der Regel als selbstverständlich wahr.
Aber wir spüren sehr genau, wenn uns Privilegien fehlen, wenn andere etwas können, haben oder dürfen, was uns nicht zusteht. Das wird schmerzhaft wahrgenommen. Damit sind uns die Faktoren, die unseren niedrigen Rang ausmachen, viel bewusster als Faktoren, die unseren hohen Rang ausmachen.
Fast alle Konflikte sind Rangkonflikte
Arnold Mindell sagt, dass 90 Prozent aller Konflikte Rangkonflikte sind. Natürlich haben sie auch noch andere Komponenten, unterschiedliche Meinungen, Werte, Streit um Ressourcen etc. – aber was es von einer Meinungsverschiedenheit zu einem Konflikt macht, ist häufig das Rangthema.
Da Rangpositionen aber selten eindeutig sind, ist es häufig so, dass sich beide Seiten eines Konflikts gegenüber der anderen Seite im niedrigeren Rang fühlen. Da wir im niedrigen Rang häufig in den „Kampf, Flucht oder Totstellen“-Modus kommen, eskalieren damit die Konflikte. Beispiel:
Menschen mit Diskriminierungserfahrung wünschen sich eine andere Sprachregelung (z.B. gender-sensible Sprache). Sie tun dies, weil sie ein Zeichen gegen die Diskriminierung setzen wollen. Menschen ohne diese Erfahrungen fühlen sich dadurch gegängelt – so als solle über sie bestimmt werden.
Daher reagieren sie genervt bis aggressiv auf die Forderungen. Sie fühlen sich in ihrem Rang bedroht, wenn ihnen Intoleranz oder gar Sexismus vorgeworfen wird, wo sie doch einfach nur so sprechen wollen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.
Wenn wir uns im niedrigeren Rang fühlen, dann verändert das auch unsere Wahrnehmung von dem Gegenüber. Julie Diamond nennt das in ihrem genialen Online-Kurs zum Thema Power Intelligence „the lens of power“. Wenn wir jemand als ranghöher wahrnehmen, dann reagieren wir anders als gegenüber Gleichgestellten.
Beispiele dafür:
- Punkte, die als Bitte formuliert werden, werden trotzdem häufig als Forderung verstanden.
- Nachfragen von Ranghöheren werden sehr viel leichter als Kritik wahrgenommen als Nachfragen von Gleichrangigen, die als Interesse aufgefasst werden.
- Ranghöhere werden – je nach Kontext – mit größerer Skepsis oder mit größerer Bewunderung angeschaut als Gleichrangige.
Untermacht – Gewalt als Folge von Diskriminierungserfahrung
Einen wichtigen Beitrag zum Thema „Macht“ liefert auch Steven Wineman, der die Folgen von traumatischen und Diskriminierungserfahrungen untersucht. Menschen, die in ihrem Leben die prägende Erfahrung gemacht haben, dass sie keine Gestaltungskraft haben, sondern von anderen dominiert werden, reagieren häufig mit Gewalt und Aggression.
Dies scheint für sie der einzige Weg, ihre eigene Kraft zum Ausdruck zu bringen. Die Objekte ihrer Aggression fühlen sich dadurch auch in der Rolle des Opfers und verstärken ihrerseits die Aggression. So beginnt eine Eskalationsspirale. Sie lässt sich in vielen persönlichen und auch gesellschaftlichen Konflikten wahrnehmen.
Menschen, die aus einer Untermacht-Position heraus Veränderungen erkämpfen, streben jedoch nur selten danach, Verhältnisse zu schaffen, in denen das bestehende Macht-Über-Verhältnis in ein Macht-Mit-Verhältnis verändert wird. Aus dem Gefühl der Untermacht resultiert meistens das Streben nach einem Umkehren der Verhältnisse – was wiederum im alten Paradigma des „Macht-über“ bleibt.
Wie können wir aus diesem Paradigma aussteigen und ein neues Paradigma schaffen, in dem Gestaltungskraft gewürdigt wird und alle ihr Potenzial entfalten dürfen?
Die eigene Macht wahrnehmen und annehmen
Es gibt fast keine Menschen, die in keinem Aspekt einen hohen Rang haben. Den eigenen “Sense of Power” (engl. Sinn für Macht, Begriff von Julie Diamont) zu entwickeln, das Selbstbewusstsein für die eigene Gestaltungskraft, ist ein wichtiger Schritt zu einem neuen, konstruktiven Umgang mit Macht.
„Rangbewusstsein“ nennt dies die Prozessorientierte Psychologie. Der unbewusste Umgang mit dem eigenen Rang ist eine der Hauptursachen für Konflikte. Und die Erkenntnis, dass wir den eigenen niedrigen Rang deutlich bewusster wahrnehmen als den eigenen hohen Rang, kann tatsächlich lebensverändernd sein.
Für fast alle Menschen gilt, dass es Bereiche gibt, in denen sie einen „hohen Rang“ haben. Sich damit zu verbinden, kann ein Schritt zu einem erfüllteren und glücklicheren Leben sein.
Rangbewusstsein als Schlüssel
Ein Schlüssel zu einem konstruktiveren Miteinander und einem gesünderen Leben liegt darin, die „Macht“ aus der Tabuzone zu heben und sie bewusster zu gestalten.
Dazu müssen wir zum einen anerkennen, wieviele Traumata und Verletzungen aus Macht-Missbrauch und Diskriminierung geschehen sind. Zum anderen ist es wichtig, dass Menschen sich mit ihrer eigenen Macht verbinden, um sie dafür zu nutzen, gemeinsam mit Anderen zu wirken und zu einer besseren Welt beizutragen.
Dazu gehört aber auch ein Wissen darüber, wie der eigene hohe Rang auf Andere wirkt, und welche Fallen damit verbunden sind. Denn wer eine hohe Rangposition innehat, wird von Anderen verzerrt wahrgenommen und erhält weniger authentisches Feedback.
Ja, sogar die Selbstwahrnehmung verändert sich. Die Blindheit für den eigenen hohen Rang und seine Auswirkungen sind die häufigste Ursache für einen toxischen Einsatz des eigenen Ranges und für unbewussten Machtmissbrauch.
Der erste Schritt zu einer rangbewussteren Gesellschaft ist, mehr darüber zu sprechen. Eine Kultur aufbauen, in der es möglich ist, Feedback zum eigenen Umgang mit der eigenen Macht zu bekommen, und Feedback zum Umgang Anderer mit ihrer Macht zu geben, ist eine ganz wichtige Aufgabe.
Vielleicht gelingt damit im Kleinen, mehr Bewusstsein für diese welt-bewegende Thematik zu schaffen, die nach und nach auch ins Große wirkt.

Eva Stützel ist Diplom-Psychologin und hat das Ökodorf Sieben Linden mit aufgebaut, in dem sie bis heute lebt. Dort war und ist sie in verschiedenen machtvollen Positionen engagiert, und war stets mit der Frage konfrontiert, wie sie ihre Gestaltungskraft sinnvoll in ein Projekt einbringen kann, das nach Hierarchiefreiheit strebt. Seit 2004 arbeitet sie als Beraterin für andere Projekte. In 2024 hat sie das Buch „Macht voll verändern. Rang und Privilegien in »hierarchiefreien« Projekten.“ veröffentlicht, in dem sie viele der hier angerissenen Fragen weiter vertieft.
Eva Stützel ist am 19. Februar zu einem Online-Abend bei Ethik heute zu Gast: Wie geht Gemeinschaft