Meister Eckhart und die Präsenz
Gibt es mehr als die tägliche Eile? Meister Eckhart, der selbst ein tatkräftiges und intensives Leben führte, war sich sicher: Die Antworten auf wichtige Lebensfragen finden wir in uns selbst. Wenn Stille einkehrt, kann der Mensch mit dem Göttlichen in Berührung kommen.
Text: Thomas Hohn
Weihnachten wird in der christlichen Tradition die Geburt von Jesus als Menschensohn gefeiert. Bis heute ist diese Zeit eine Möglichkeit, in einer schnelllebigen Zeit voller Herausforderungen innezuhalten. Meister Eckhart (1260-1328) gelang genau das: Inmitten seines intensiven Lebens schaffte er Räume der Stille, um Gott zu begegnen.
Eckhart von Hochheim (1260-1328) entschied sich bereits früh für das Leben im Dominikanerorden. Schnell stieg er in der Hierarchie auf. Er besuchte die Universität in Paris und lehrte dort später selbst. Als Oberhaupt war er für ein Gebiet verantwortlich, das sich von Sachsen, Brandenburg, Thüringen und Hessen bis nach Stralsund, Hamburg, Friesland und Niederland erstreckte.
Eckhart war mit einer Fülle von administrativen Aufgaben betraut: Statutenberatungen und -beschlüsse, Fragen zu Neugründungen und Neubauten, Disziplin und Reformen. Aus heutiger Sicht würde er wohl wahlweise als hochangesehener Wissenschaftler oder als Top-Manager bezeichnet werden.
Zugleich nannten die Menschen ihn Lebemeister, denn er entwarf eine neue Perspektive auf das Leben. Er lehrte diese nicht nur, sondern lebte sie vor. Über siebenhundert Jahre später bezogen sich Menschen wie Hermann Hesse und Dorothee Sölle, Hegel und Heidegger auf ihn. Erich Fromm widmete ihm ganze Absätze in seinem Werk „Haben oder Sein“. Bis heute werden seine Gedanken als „kühn“ bezeichnet.
Der umtriebige Mönch fand Antworten, die das damalige Weltbild auf den Kopf stellten, die Inquisition auf den Plan rief und für uns heute aktueller denn je sein könnten.
Das Versteck am Grunde der Seele
Eckhart stellte sich die große Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Warum. Gibt es mehr als die tägliche Eile? Die vielen Dinge, die uns so wichtig erscheinen? Es ist ihm ein Rätsel, das ihn als Mönch zu einer weiteren Frage führt: Hat das Göttliche eine Berührung mit unserem Leben?
Er suchte in alten Schriften, bei Augustinus, bei dem arabischen Philosophen Ibn Ruschd, bei dem jüdischen Gelehrten Moses Maimonides, bei dem alexandrinischen Gelehrten Origenes.
Alles wies ihn daraufhin: Wenn er eine Antwort finden wollte, so konnte er diese nicht im Vielerlei des Außen entdecken. Es gab ein Versteck am Grunde seiner Seele. Er tauchte dabei immer tiefer in das Innerste.
Umso näher er der Lösung kam, desto klarer wurde ihm, dass im Leben eine Einladung zur inneren Verwandlung verborgen ist, auch wenn viele in seinem Umfeld die Auffassung vertraten, dies sei gänzlich unmöglich.
Im Weihnachtsfest wird seine Erkenntnis besonders deutlich. Die Geburt des Göttlichen als Mensch wurde ihm ein Aufruf zur inneren Transformation.
Die Geburt Gottes in uns
Meister Eckhart begreift das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in einer besonderen Weise. In einem seiner lateinischen Werke findet er eindringliche Worte:
„Denn wenig bedeutete es mir, dass das Wort für den Menschen Fleisch wurde in Christus, jener von mir verschiedenen Person, wenn es nicht auch in mir persönlich (Fleisch annähme), damit auch ich Gottes Kind wäre.“ Meister Eckhart
Dieses Zitat ist seine zentrale Botschaft: Die Menschwerdung Gottes ist nicht nur ein einmaliges Ereignis, sondern ein universelles Prinzip, das in jedem Menschen Wirklichkeit werden kann. Weihnachten wird somit nicht nur zur Erinnerung, sondern zur Einladung, unser eigenes Leben zu einem Ort der göttlichen Geburt zu machen.
„Es ist kein Geschehen, das nur einem Menschen vor über tausend Jahren zu eigen war. Es ist allen Menschen möglich. Allen. […] es ist unser Ursprung, unser Geburtsrecht. Es ist unsere wahre Natur.“ Aus: Romanbiografie: Das Undenkbare Universum – Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt.
Die Geburt des Gottessohns ist für ihn nicht nur ein äußeres und einmaliges Geschehen, sondern ein inneres, fortwährendes Ereignis, das in jedem Menschen stattfinden kann. Nicht einmal, sondern in jedem Jetzt neu. Eckhart fordert uns heraus, einen neuen Sinn von Weihnachten zu entdecken: die Geburt des Göttlichen in uns selbst.
Die spanische Mystikerin Teresa von Avila hätte wohl das Bild benutzt, dass der Mensch einer Raupe gleich sich zu einem Schmetterling verwandelte. Eckhart hätte möglicherweise ergänzt, dass es ihm viel mehr so vorkomme, dass der Mensch bereits ein Schmetterling ist und sich dessen nur nicht bewusst sei. Teresa hätte ihm darin zugestimmt.
„Es gibt in Gott keine Zeit. Wenn er sich in mich gebiert, dann kann das nur im Jetzt geschehen. Nicht in einem Jetzt und dann nie wieder. In jedem Jetzt. Immer neu.“ Aus: Romanbiografie: Das Undenkbare Universum – Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt.
„Mit der Liebe gehe ich in Gott auf“
Sein Weg ging dabei über ein Wunder, das sich dann offenbart, wenn der Mensch ganz still wird. Sich von dem Vielerlei der Gedanken und des Alltags nach Innen wendet und einen Moment der Ruhe zu lässt.
„Gott und ich wir sind eins. Mit dem Erkennen nehme ich Gott in mich auf, mit der Liebe gehe ich in Gott auf.“ Meister Eckhart.
Er spricht davon, aller Gedanken und Vorstellungen ledig zu werden, ganz den Moment wahrzunehmen. Der zur Ruhekommende sei am besten wie ein leeres Gefäß, damit die Fülle in der Stille aufgenommen werden kann. Ein Ansatz, der ihn immer wieder in die Nähe des Zen-Buddhismus gebracht hat.
„Gott ist im Jetzt. Du bist im Jetzt. In diesem Augenblick, wenn du das erleben kannst, hast du alles ergriffen. Mach dich frei von Gott, deinen Bildern von Gott. Sei achtsam im Jetzt. Das Jetzt ist Ewigkeit.“ Aus: Romanbiografie: Das undenkbare Universum – Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt.
Das Tor zum Leben ist im Jetzt
So wenig Meister Eckhart sich selbst als Mystiker oder Zen-Meister sehen konnte, so sehr hat er doch eine aktuelle Botschaft für uns. Wenden wir uns dem Augenblick zu.
Bei allen Erinnerungen an Vergangenes und allem Planen ins Zukünftige, es ist nur dieser eine Moment Jetzt, den wir wirklich haben. Nur hier können wir uns dem Inneren zuwenden.
Am Grunde der Seele liegt ein Geheimnis, ein Geschenk. Es offenbart sich in der Weihnachtsgeschichte. Wir können diesem Wunder der Stille bei einer Tasse Tee genauso begegnen wie bei einem Spaziergang. Es ist eine Einladung zu einem wahrhaftigen Leben, unserem Leben.
Thomas Hohn
studierte Philosophie, Psychologie und Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkten Spätmittelalter, Buddhismus und christliche Mystik. Er veröffentlichte 2024 den historischen Roman „Die Rebellion der Mystikerin – Teresa von Avila und die Verwandlung der Welt“. Mit der aufwändig und sorgfältig recherchierten Romanbiografie „Das Undenkbare Universum – Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt“ entführt er in das Leben und die Lehre von Meister Eckhart.