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Philosophische Kolumne

Der Autor Peter Vollbrecht denkt über die toten Schildkröten als Folge der Plastikverschmutzung der Meere nach. Ein erschütterndes Zeugnis der Plastikhölle Indiens, das nicht nur den Subkontinent und seine Strände, sondern alle Gewässer der Erde auszeichnet. Dennoch glaubt der Autor an den Schönheitssinn des Menschen, der unsere Erde retten kann.

Sie liegen an den Stränden Indiens, die großen Schildkröten, fast einen Meter groß sind die Tiere. Manche schaffen es, ihre Eier zu vergraben, manche aber liegen tot auf dem Sand. Die Krähen haben ihnen die Augen und das Gehirn ausgepickt, mitunter ist der Kopf völlig skelettiert. Erschüttert umkreise ich eine, da erkenne ich zwischen den Beinen ein Plastikseil eines zerrissenen Fischernetzes.

Oder einen Plastikstreifen, der sich um die Vorderflossen gewunden hat. Bei einem kleinen Strandspaziergang von einer Stunde zähle ich vier Kadaver. Die toten Schildkröten von Mahabalipuram liegen dort in anklagender Traurigkeit.

Ich frage die Fischer. Dead, yes Sir, dead, und dazu das typische indische Kopfwackeln, das ganz verschiedene Skalen abdeckt, von Ja zu Nein, über gut zu schlecht und wahr zu falsch bis hin zu weiteren Sprechakten. Woran sie gestorben seien? Old, Sir, old. Ich weise auf die Blutspur am Hals hin. Oh, very bad, Sir, eine weitere Kopfgeste, ein Lächeln, das eine gelbe Zahnruine freigibt, und dann die Frage, woher man komme.

Ich bin mal wieder in Indien, das Land und die Zivilisation, die ich bewundere und die mich empört, seit fast dreißig Jahren zieht es mich dorthin. Jedes Mal erlebe ich dieses Wechselbad der Gefühle. Die Positiv- und die Negativlisten sind lang und decken fast die ganze Bandbreite des menschlichen Lebens ab, Indien ist ein Spiegel, in den homo sapiens schaut, die große Welt im Brennglas. Es gibt immer beides: Grausames und Hoffnungsvolles.

Das alles ist bekannt, ich möchte das nicht eigens ausbreiten, denn jetzt geht es um das Plastik. Es ist allgegenwärtig auf dem Subkontinent: auf den Feldern flattert es im Wind, in den Dörfern und Städten markiert es die Straßenkante, in den Bergschluchten des Himalaya schimmert es bunt, an den Stränden der beiden Meere windet es sich beim Baden um den Fuß, und selbst in den Nationalparks ist es eine Plage damit auf den Picknickplätzen.

Im Jahr 2050, so lese ich in einem Zeitungsartikel, wird in den Ozeanen mehr Plastik als Fische schwimmen. Der Artikel bedarf keiner weiteren Überprüfung, um zu alarmieren und zu deprimieren.

Dreißig Prozent des weltweit produzierten Plastiks werde in die Meere gespült. Und dort wird es zerrieben, sinkt herab und findet seinen Eingang in die Meeresorganismen, oder es kreist in riesigen Müllstrudeln auf der Oberfläche. Oder es schwappt träge an der Wasserkante und bildet eine Linie an der Flutmarke auf dem Sand.

Keine andere Kultur als die indische hat meines Wissens so emphatisch den Gedanken vertreten, dass der Mikrokosmos des Lebens mit dem Makrokosmos des Universums eines sei. Dass ich mein eigenes Selbst im Samenkorn einer Sonnenblume entdecken kann oder im langsamen Atmen des Alls.

Die Plastikhölle Indiens spricht dem Hohn. Aber: es gibt sie auch dort, die kleinen Zonen einer polyäthylenfreien Welt. Am Berg Arunachala etwa, wo der Weise Ramana Maharshi in einer Höhle meditierte, bevor er seinen Ashram gründete, wo ihn auch Carl Friedrich von Weizsäcker besuchte und, nach eigenem Bekunden, eine Erleuchtung erlebte. Oder auf dem weitläufigen Gelände in Auroville, einer futuristischen internationalen Gemeinde, die den Weltfrieden verwirklichen möchte. You please stick to the rules, no further argument, so wurde ich zurechtgewiesen, als ich an meiner elektrischen Zigarette nuckelte und bedeutete, es handle sich nicht um ein Rauchen, sondern um ein Dampfen. Verschämt steckte ich sie weg.

Die plastikfreien Oasen Indiens sind stets spirituelle Plätze. Zwar ist nicht jeder spirituelle Ort sauber. Aber wenn das Religiös-Spirituelle auf den Willen zur Ästhetik trifft, dann gelingt ein kleines Wunder. Dann streicht eine sanftere Hand über die Natur. Dann wird gesäubert, gepflanzt, umhegt und bewässert.

Dass der Kosmos nicht nur geordnet, sondern dabei – und vielleicht nur dabei? – auch schön ist, gehört zu den ältesten Ideen der Menschheit. Dass die Menschheit, ja dass die gesamte Biosphäre nur in einer schönen Welt überleben kann, wäre eine Botschaft für die plastikvermüllte Welt des Jahres 2017.

Auf die ästhetische Erziehung hatte vor über zweihundert Jahren schon ein Größerer gesetzt, es war Friedrich Schiller. Ihm ging es idealistisch um den ganzen Menschen in seiner Einheit aus Verstand und Gefühl, und damit wollte er eine Lanze brechen für den politischen Fortschritt. Darum geht es heute nach wie vor, doch im Blick auf das tödliche Plastik weitet sich der Sorgenkreis auf die Vielfalt des Lebens überhaupt.

Spätestens mit der geschlechtlichen Fortpflanzung ist das Schöne zu einem entscheidenden Mitspieler in der biologischen Evolution geworden. Und einige Organismen werden ästhetische Empfindungen zweckfreier, nämlich über die Ziele der Reproduktion hinausgehend, ausgebildet haben.

Welche Kognition dafür erforderlich ist, wissen wir nicht. Wir Menschen jedenfalls haben mit unserer Vernunft und deren kulturellen Leistungen den Wirkungskreis der Schönheit enorm ausgedehnt.

Gewiss: Menschen sind hungrig nach Broten. Aber sie sind auch sehnsüchtig nach dem Schönen – heute vielleicht mehr als früher, denn beim Produkt macht das Design den Kaufanreiz. Es käme allerdings darauf an, die Sehnsucht nach Schönheit nicht auf das Designerschöne zu beschränken. Denn das schert sich nicht um die Schönheit der Natur und endet bekanntlich auf den westafrikanischen Müllhalden Accras.

Es ist ein ansprechender Gedanke, dass ursprünglich im Schönen der Widerschein eines sinnvollen Ganzen erlebt wurde. Ich scheue ein wenig, es als Göttliches anzusprechen, lieber adressiere ich mich dabei an den Grundspruch der Natur: Leben möge sich entwickeln.

Die tödliche Plastikfracht unserer Zivilisation jedoch erstickt das Leben. Achtlos und ignorant handeln wir, gewissenlos gegenüber dem großen Lebenskreis.

Änderungen, vertrauen wir sie der Technik und der internationalen Politik an, kommen langsam, zu langsam, denn das Plastik lässt sich ungleich schwerer aus dem Meer filtern als etwa das Kohlendioxyd aus der Luft abzuscheiden wäre. Setzen wir lieber auf den Schönheitssinn der Menschen, der sich – die Architektur und die Künste zeigen es – weiter entwickelt und verfeinert. Wir wollen eine schönere Welt als diese, denn sie ist die bessere.

Erinnern wir an die toten Schildkröten am Strand von Mahabalipuram.

Peter Vollbrecht, 03. Februar 2017

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