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Unsere Intelligenz als Teil einer größeren Intelligenz verstehen

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Ein Essay der Philosophin Natalie Knapp

Wir haben vergessen, dass wir als Menschen eingebunden sind in das Netz des Lebens, sagt die Philosophin Natalie Knapp. Sie regt dazu an, größer zu denken. Statt nur noch mit uns selbst zu reden, sollten wir das Gespräch mit unserem Planeten suchen und uns mit der Intelligenz der Natur verbinden.

Vor etwa zwanzig Jahren habe ich als Journalistin zwei afrikanische Schauspieler interviewt. Sie waren erst wenige Jahre in Deutschland und ich habe sie gefragt, was für sie das Seltsamste an der deutschen Kultur sei. Einer sagte sofort: „Spazierengehen“

„Wieso denn Spazierengehen?“, fragte ich

„In meinem Land“ sagte er, gehen wir hunderte von Kilometern zu Fuß, um Wasser zu holen oder Verwandte zu besuchen oder zur Schule zu gehen. Aber Spazierengehen, um die Natur anzuglotzen, als wäre sie so etwas wie ein Museum und als würde man selbst gar nicht dazugehören? Das ist wirklich sehr seltsam.“

Und noch während er das sagte, fingen die beiden an zu lachen. Das war das erste Mal, dass mir jemand meine eigene Kultur von außen gezeigt hat, und ich wusste noch in diesem Moment, dass die beiden Recht hatten: Die Natur als Erholungsraum zu betrachten und so zu tun, als würde man nicht dazugehören, ist wirklich sehr seltsam.

Bis zu diesem Moment war mir die Trennung zwischen mir selbst und „der Natur“ völlig selbstverständlich erschienen. Das zeigt sehr deutlich, dass wir uns eine bestimmte Art zu denken angewöhnt haben, die manche Dinge unsichtbar werden lässt. Beispielsweise die einfache Tatsache, dass wir alle zur Natur dazugehören.

Diese Einsicht ist in den meisten indigenen Kulturen lebendig, es gibt dafür sogar eigene Worte. Die Ureinwohner Australiens nennen es beispielsweise Kanyini, im südlichen Afrika heißt es Ubuntu, in Lateinamerika Buen Vivir.

Als Jugendliche war ich sehr beeindruckt von einem Dokumentarfilm über einen sibirischen Einsiedler, der tief im Wald lebte. Er wurde gefragt, ob er sich nicht manchmal einsam fühle so allein da draußen. Er antwortete: „Wie könnte ich mich denn einsam fühlen, wenn hier permanent so viele Leute unterwegs sind?“

„Welche Leute denn?“ fragte der Dokumentarfilme. Der Einsiedler sagte etwas irritiert: „Na Leut Marder und Leut Fuchs, Leut Wildschwein und all die anderen Leute.“

Der Planet verwandelt sich durch uns hindurch

Im Westen haben wir die Vorstellung, ein Individuum zu sein. Die Identität als Person hat für den Einzelnen einen hohen Stellenwert; wir sprechen auch von „Autonomie“. Doch in Wirklichkeit sind wir verbunden. Meine Haut wird von derselben Luft berührt wie die anderer Lebewesen, dieselben Moleküle wärmen uns mit derselben Temperatur. Dieselben Geräusche dringen an unser Ohr.

Wir alle nehmen Sauerstoff aus der Umgebung auf und geben Kohlenstoff ab. D.h. wir nehmen einen Teil der Natur in uns auf und lassen ihn zu einem Teil von uns selbst werden. Und ebenso ist es mit der Nahrung, die wir zu uns nehmen; aber auch mit den Gedanken, Gefühlen und Ideen anderer, die wir in uns aufnehmen, verarbeiten und zu einem Teil unserer selbst machen.

Da ist ein ununterbrochener Verwandlungsprozess im Gange, der durch uns alle hindurchläuft. Es gibt uns gar nicht als abgetrennte Einzelwesen. Der gesamte Planet verwandelt sich durch uns hindurch. Und auf diese Weise sind wir in jedem Moment mit dem gesamten Netzwerk des Lebens verbunden.

Alles auf dieser Erde ist miteinander verwandt

Unser Planet ist ein Zusammenschluss der unterschiedlichsten Intelligenzformen. von Viren, Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere, Pilze und uns.  Man könnte die Erde als einen Superorganismus bezeichnen, der lebt. Diese Betrachtungsweise wäre wichtig für ein erfolgreiches planetares Denken: Wir alle sind Intelligenzformen unseres Planeten.

Planetares Denken bedeutet, unsere Intelligenz mit der Intelligenz aller anderen Lebensformen zusammenzuschließen. Und die Erde als das größte zusammenhängende Lebewesen zu erleben.

Als die Astronauten der Apollo 8 unseren Planeten zum ersten Mal von außen sahen, hatten sie eine ganz ähnlich Erkenntnis: Alles auf diesem Planeten gehört zusammen, jede Grenze ist künstlich und jedes Lebewesen auf diesem Planeten ist enger mit uns verwandt als alles andere im Universum. Alles auf diesem Planeten ist miteinander verwandt.

Dieses Verständnis der Vernetztheit des Lebens ist natürlich nicht neu, es gehört in allen indigenen Kulturen zum Basiswissen. Diese Kulturen haben ihr Denken sehr viel mehr als wir mit dem Planeten synchronisiert. Aber für uns im Westen heute ist es eben neu. Deshalb fällt es uns auch so schwer, etwas so Holistisches wie das Klima zu verstehen.

Was wir „Klima“ nennen, ist einfach nur einer der großen systemischen Regulatoren, die das große Lebewesen hervorgebracht hat, das wir Planet Erde nennen und das wir alle zusammen sind. Das Klima reguliert die Wetterereignisse. Und es arbeitet ganz eng zusammen mit den Gletschern, den Meeren, den Flüssen, den Wäldern und all den anderen intelligenten Organisationssystemen, die unser Planet in Jahrmilliarden aus seiner Einheit heraus erschaffen hat.

Sie alle gehören zur Führungsriege unseres Planeten. Sie ermöglichen diesem gigantischen Lebewesen, seine Einheit zu organisieren. So wie unsere Nervensysteme oder unsere Blutbahnen, unser Hormonhaushalt und unsere Organe permanent unsere kleine Einheit organisieren. Die große Einheit des Planeten und die kleine Einheit unseres Körpers sind fein aufeinander abgestimmte Beziehungssysteme.

Die Natur ordnet Leben, aber nicht linear, sondern komplex

Ich betrachte unseren Planeten als ein ultrakomplexes Lebewesen. Und ich behaupte, dass dieses Lebewesen denkt. Es mag Sie vielleicht erstaunen, dass ich hier behaupte, dass der Planet denkt. Aber ich verstehe die Tätigkeit des Denkens in einem sehr weiten Sinn. Denken bedeutet für mich: Wahrnehmungen ordnen, Sinnzusammenhänge schaffen und Probleme zu lösen. Denn genau das machen Menschen, wenn sie denken.

Doch anders als wir denkt der Planet als Ganzheit. Er nutzt die Sinnesorgane all seiner Lebewesen, um zu ordnen, zu gestalten, Probleme zu lösen und immer wieder neues Leben hervorzubringen.

Als Superorganismus ordnet er auch nach anderen Mustern als wir. Der Planet ordnet nicht linear, effizient und zielgerichtet, sondern komplex und holistisch.

Nicht eine Ursache erzeugt eine Wirkung, sondern tausende von Ursachen erzeugen tausende von Wirkungen, ohne dass man das in allen Einzelheiten zurückverfolgen könnte. Die Erde organsiert sich selbst als andauerndes Gespräch zwischen all ihren Lebewesen.

Wir glauben immer noch, wir seien hier die einzige Spezies, die denken kann. Aber das stimmt nicht. Denn auch der Wald denkt. Darüber hat der Anthropologe Eduardo Kohn ein wunderbares Buch geschrieben. Es heißt „Wie Wälder denken“.

Ein intelligenter Wald interagiert beispielsweise mit der Atmosphäre, er redet sozusagen mit den Wolken, um ihnen zu sagen, dass er jetzt Wasser braucht. Natürlich spricht auch er nicht in unserer, sondern in seiner Sprache. Bei dieser planetaren Konversation spielen Pilze, Terpene und Kondensationskerne eine Rolle. Und die Wolken regnen dann direkt über ihm ab.

Unsere heimischen Wälder sind nicht deshalb so trocken, weil es nicht mehr genug regnet. Es regnet nicht, weil wir unseren Wäldern nicht ermöglichen, ihre Intelligenz und Sprache auszubilden.

Wir reden nur noch mit uns selbst

Der amerikanische Ökotheologe Thomas Berry hat unsere Misere einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht, er sagte: „Wir reden nur noch mit uns selbst. Wir reden nicht mit den Flüssen, wir hören nicht dem Wind zu und den Sternen. Wir haben diese große Unterhaltung unterbrochen. Indem wir das Gespräch abgebrochen haben, haben wir das Universum zerschmettert. All die Katastrophen, die uns jetzt widerfahren, sind eine Konsequenz dieses spirituellen Autismus.“

Wenn wir uns in dieses große Gespräch wieder eingliedern, dann haben wir gute Chancen, dass sich das gigantische Lebewesen, das wir alle zusammen sind, erholen wird.

Planetar zu Denken bedeutet also nicht über unseren Planeten nachzudenken, sondern zuallererst sich von ihm berühren zu lassen, von den Pavianen, den Ozeanen und vom Klang des Regens. Sich von diesem gesamten Lebensnetz wirklich angesprochen zu fühlen, seine Sprachen zu lernen und auf unsere eigene intelligente Weise zu antworten.

Auf Antworten hören

Denn wenn mich der Planet wirklich bewegt, dann setze ich mich auch für ihn in Bewegung. Und es bedeutet auch, in dieses Netzwerk hineinzurufen, wenn man Hilfe braucht – so wie wir jetzt gerade Hilfe brauchen: in das intelligente Netzwerk der Pilze, der Mikroorganismen, der Bäume, der Meere und der Wälder hineinzurufen. Ihre Zusammenhänge, Kompetenzen und Kreisläufe zu erforschen und sie sowohl als unsere erfahreneren Vorfahren als auch als unsere aktuell Verbündeten zu betrachten.

Planetares Denken bedeutet, auf ihre Antworten zu hören und ihre Lösungsvorschläge ernst zu nehmen. Es bedeutet, unser eigenes Bewusstsein als Teil der Wildnis zu begreifen und unsere Intelligenz wieder mit dem gesamten Netzwerks des Lebens zu verbinden.

Mein Körper gehört nicht nur zu mir, er ist eher so etwas wie eine empfindsame Membran, deren Schwingungsmuster sowohl von innen als auch von außen wahrgenommen werden kann. Wie der buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh einmal in seiner unnachahmlichen Einfachheit sagte:

„Es gibt so viele Arten von Lebewesen, so viele Elemente in unserem Körper und unserem Bewusstsein. In jeder Zelle können wir die Geschichte der gesamten Menschheit, der Erde und des Kosmos erkennen. (…) Jedes Mal, wenn wir während der Gehmeditation einen Schritte machen, bewegen wir uns wie ein Organismus, wir bewegen uns wie der Kosmos, und all unsere Vorfahren bewegen sich mit uns, machen Schritte mit uns. (…) Das eine enthält alles.“

Es wird sicher eine Weile dauern, unsere gewohnten Denkmuster zu erweitern, aber heute ist ein guter Tag, um damit anzufangen.

Foto: privat

Dr. Natalie Knapp, Philosophin und Autorin. Schwerpunkt ihrer Publikations-, Vortrags- und Seminartätigkeit ist das Thema Bewusstseinswandel im 21. Jahrhundert. Autorin mehrerer Bücher, 2015 erschienen bei Rowohlt: „Der unendliche Augenblick“. http://anders-denken-lernen.de/

Tipps zum Lesen:

David Abram. Im Bann der sinnlichen Natur – Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt. ‎thinkOya, 2. Aufl. 2015

Lucas Buchholz. Kogi: Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert. Neue Erde, 4. Aufl. 2022

James Bridle. Die unfassbare Vielfalt des Seins: Jenseits menschlicher Intelligenz. C.H.Beck, 3. Aufl. 2023

Robin Wall Kimmerer. Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen. Aufbau, 9. Aufl. 2021.

Ein Buch für Kinder ab 10 Jahren: Eldon Yellowhorn, Kathy Lowinger. Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen: Wissen und Geschichten. Carlsen 2024

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