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„Viele Israelis fühlen sich von der Welt verlassen“

Bomben der Hamas auf Israel, Ameer Massad/ Shutterstock
Bomben der Hamas auf Israel, Ameer Massad/ Shutterstock

Interview mit Dr. Michael Blume

„Wer zum Terror der Hamas schweigt und Israel kritisiert, zeigt seine Doppelmoral,” sagt Dr. Michael Blume, Beauftragter des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. Im Interview nennt er drei Kriterien für einen auf Israel bezogenen Antisemitismus, wehrt sich aber dagegen, sachliche Kritik an Israels Regierung als “Antisemitismus” abzutun.

 

Das Interview führte Bernhard Lutz

Der Konflikt im Nahen Osten weitet sich immer weiter aus, wie wirkt sich dies auf Ihre Arbeit als Antisemitismus-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg aus?

Blume: Mein Amt wurde ja überhaupt erst geschaffen, da wir seit 2012 einen wellenförmigen, weltweiten Wiederanstieg des Antisemitismus erleben. Seit meinem Amtsantritt 2018 sind mein Team und ich oft bis über die Grenzen der Erschöpfung hinaus im Einsatz, um diesem Anstieg zu wehren.

Seit dem 7. Oktober 2023 ist der israelbezogene Antisemitismus vor allem in den Universitätsstädten durch ein Bündnis linker, muslimischer und vereinzelt auch rechter und libertärer Akteure noch einmal eskaliert. Ohne eine robuste körperliche und vor allem auch geistige Gesundheit sowie ein starkes Team wäre diese Arbeit gar nicht mehr zu leisten.

Welche Folgen hat der Krieg, ausgelöst durch das Massaker der Hamas vor einem Jahr, auf das jüdische Leben in Deutschland?

Blume: Viele, gerade auch jüngere und oft eher links orientierte Jüdinnen und Juden haben auch in Deutschland die bittere Erfahrung gemacht, dass das Hamas-Terrormassaker und die Vergewaltigungen israelischer Frauen praktisch sofort von vielen vermeintlichen Freunden verharmlost wurden.

Schnell kam es auch zu einer Täter-Opfer-Umkehr nach dem Motto: Die Juden hätten eben keinen eigenen Staat gründen dürfen. Während die meisten Jüdinnen und viele Juden die #Metoo-Bewegung gegen sexualisierte Gewalt unterstützt hatten, erfuhren sie nun: Metoo, unless you are a Jew, also: Keine Gewalt gegen Frauen, außer es sind Jüdinnen. Das ist für viele sehr schlimm.

Vor allem an den Universitätsstädten haben sich aggressive Milieus aus linken und arabischen Antisemitinnen und Antisemiten gebildet, die über das Internet und mit inszenierten Camps und Demonstrationen gegen Israel und jüdisches Leben in Deutschland vorgehen.

Ich habe selbst erlebt, wie viele Verantwortliche daran gescheitert sind zu verstehen, dass es hier nicht um einen Konflikt zwischen jüdischen und muslimischen Menschen geht, sondern um Demokratie versus Antisemitismus. Entsprechend leiden viele jüdische Menschen, einige haben ihr Studium unterbrochen und manche denken ans Auswandern.

Andererseits steigt aber auch die Zahl der Israelis, die wiederum befürchten, dass ihre Demokratie zusammenrechen könnte. Es ist also eine sehr belastende, manchmal verzweifelte Situation.

Man darf den Vorwurf des Antisemitismus nicht instrumentalisieren.

In letzter Zeit ist häufig von einem auf Israel bezogener Antisemitismus die Rede. Was genau verstehen Sie darunter?

Blume: Der Kleinstaat Israel mit nicht einmal zehn Millionen Menschen wird auch heute noch dämonisiert, bekämpft, attackiert, mit Vernichtungsforderungen überzogen. Antizionismus ist nur ein anderes Wort für israelbezogenen Antisemitismus.

Das gibt es so gegenüber anderen Staaten nicht. Die 1948 und 49 von schweren Konflikten begleiteten Gründungen des mehrheitlich buddhistischen Myanmar oder mehrheitlich muslimischen Pakistan lösten keine globalen Vernichtungsfantasien aus.

Welche Kritik an Israel ist aus Ihrer Sicht berechtigt und welche nicht? Israel ist ja eine Demokratie und es gibt auch innerhalb Israels Menschen und Organisationen, die die Regierung kritisieren. Innerhalb Israels würde man diese aber nicht als Antisemiten bezeichnen, oder? Es sind ja Juden.

Blume: Leider wird der Antisemitismusvorwurf zunehmend instrumentalisiert, um Demokraten in den USA oder auch in Europa abzuwerten. Ich war ja der erste Antisemitismusbeauftragte in Deutschland. Meine muslimische Ehefrau und ich wurden von israelischen und US-amerikanischen Rechtsextremisten geschmäht und sogar auf eine Online-Prangerliste gestellt.

Zuletzt wurde Kamala Harris als Antisemitin geschmäht, obwohl sie mit einem jüdischen Ehemann glücklich verheiratet ist. Diesen Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs habe ich immer wieder kritisiert – auch, als Benjamin Netanjahu einen britischen Juristen als “Antisemiten des Jahrzehnts” schmähte.

Aus meiner Sicht schadet es dem Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und auch Sexismus, wenn auch sachliche und sogar loyale Kritik damit bezeichnet wird.

Wir finanzieren über Öl- und Gasimporte die Diktaturen und Terrorgruppen.

Welche Kriterien gibt es für eine legitime Kritik an Israel?

Blume: Israelische Politik darf und muss ebenso fair kritisiert werden wie die jedes anderen Staates auch. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Es gibt dazu das 3D-Kriterium, das für Israel und alle anderen Staat gilt: Bei der Kritik nicht dämonisieren, nicht delegitimieren, keine doppelten Standards anlegen. Wer sich daran hält, muss sich Antisemitismusvorwürfe auch nicht bieten lassen.

Darf man aus Ihrer Sicht das Vorgehen der israelischen Armee kritisieren, wenn sie zum Beispiel das Kriegsrecht bricht?

Blume: Selbstverständlich darf man das. Gleichwohl sollte diese Kritik dann aber zunächst auch den Terrororganisationen der Hamas, Hisbollah und Huthi gegolten haben, die schließlich Israel angegriffen und Israelis getötet haben. Wer dazu geschwiegen hat und jetzt aber unbedingt Israel kritisieren will, legt klar erkennbar doppelte Standards an.

Wieviel Diskurs ist Ihrer Meinung nach derzeit möglich angesichts der Tatsache, dass Rechtsextreme in der Regierung von Ministerpräsident Netanjahu sind?

Blume: Derzeit fühlt sich der größte Teil der israelischen Bevölkerung von der Welt verlassen. Die Vereinten Nationen beschließen lauter Resolutionen gegen Israel. Gleichzeitig haben sie über die UNRWA auch Hamas-Terroristen finanziert und die UN-Resolution von 2006 zum Abzug der Hisbollah aus dem Südlibanon niemals umgesetzt.

Aber nicht nur meine israelischen, auch meine türkischen, kurdischen, arabischen und iranischen Kontakte haben keinen Bedarf an weiteren Belehrungen aus Deutschland.

Wir haben die post-fossile Transformation zu erneuerbaren Friedensenergien und Elektromobilität noch immer nicht geschafft, sondern finanzieren über europäische Öl- und Gasimporte die schlimmsten Diktaturen und Terrorgruppen mit, befeuern auch die Klima- und Wasserkrise. Solange das so ist, sollten wir uns kluge Ratschläge auch besser mal verkneifen.

Ich bin manchmal erschöpft, aber nie ohne Hoffnung.

Sehen Sie eine Perspektive für Frieden im Nahen Osten, und wenn Ja, wie könnte sie aussehen?

Blume: Wenn gerade auch Europa sehr schnell die post-fossile Transformation vorantreiben und die Importe an Öl und Gas deutlich reduzieren würde, kämen auch die fossilen Altherren-Regime im Iran und in Russland unter Druck.

Dann würden jene bereits jetzt existierenden Stimmen lauter werden, die es satt haben, dass Milliarden für Raketen, Terrorgruppen und antisemitische Propaganda verschleudert werden, während auch arabische, russische und iranische Menschen leiden.

Deswegen habe ich am 9. November 2023 – dem 100. Jahrestag des ersten Hitlerputsches, dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht – im Landtag von Baden-Württemberg eindringlich für “erneuerbare Friedensenergien” geworben.

Wer so wie ich noch Frieden erleben will, sollte umgehend aufhören, die fossilen Regime und Kriege sowie die Klimakrise zu finanzieren! Ich zähle mich zu den sog. Solarpunks, die so schnell wie irgend möglich den Verbrauch fossiler Rohstoffe auch im eigenen Leben reduzieren. In meinen Augen ist das der beste Weg, konkret für Frieden zu wirken.

Was war Ihr bisher schönster Moment, Ihr schönstes Erlebnis als Antisemitismus-Beauftragter?

Blume: Eine besondere Ehre war die Verleihung der Otto-Hirsch-Auszeichnung durch die jüdische Gemeinde, die christlich-jüdische Gesellschaft und die Stadt Stuttgart im Juli 2022. Und als sich nach meiner Rede im Landtag von Baden-Württemberg am 9. November 2023 alle demokratischen Fraktionen zum Applaus erhoben – die ersten Standing Ovations im Parlament seit acht Jahren -, da verspürte ich einen Schub neuer Hoffnung.

Sie haben viele Verpflichtungen, Ihre Tage und Wochen sind getaktet. Woraus schöpfen Sie Kraft, wie erholen Sie sich?

Blume: Ich habe eine wundervolle, deutsch-türkische Familie mit drei Kindern, einen verständnisvollen Freundeskreis und ein großartiges Team. In meiner knappen Freizeit lese, schreibe und blogge ich zu Themen der Religionswissenschaft und Evolutionsforschung.

Und ich ließ mich als junger Erwachsener in die evangelische Landeskirche taufen und erlebe das tägliche Miteinander mit muslimischen, jüdischen, christlichen, anders- und nichtglaubenden Menschen als großes Glück.

Unser Leben wird wohl schwerer werden, aber es kann auch durch Sinn und Gemeinschaft erfüllt sein. Ich bin manchmal erschöpft, aber nie ohne Hoffnung.

Foto: die arge lola

Dr. Michael Blume ist Religionswissenschaftler und arbeitet seit 2003 im Staatsministerium. Er war verantwortlich für die Projektgruppe „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ und leitete von 2016 bis 2020 das Referat für „Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten, Projekte Nordirak“.

Im März 2018 wurde er zum Beauftragten des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben ernannt. Er publiziert Bücher und bloggt regelmäßig zu unterschiedlichen Themen in den Bereichen von Religion und Politik. Seit 2020 betreibt er den Podcast „Verschwörungsfragen“, in welchem er über antisemitische Mythen aufklärt.

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