Philosophische Kolumne: Der Wert der Vielfalt
Wir sehnen uns nach Harmonie, doch was bedeutet das eigentlich? Der Philosoph Ludger Pfeil ermutigt, den Absolutheitsanspruch zu überwinden und aus Widersprüchen und gegensätzlichen Perspektiven etwas Neues zu entwickeln. Denn wir müssen die großen Anliegen zu unserem gemeinsamen Projekt machen.
Kaum tanzen die ersten Schneeflocken in der Luft, da taucht auch sie wieder auf. Pünktlich zur Adventszeit meldet sie sich leise, doch unüberhörbar: die Sehnsucht nach Harmonie, nach wärmendem konsonantem Einklang, nach kaminfeuerkuscheligem Friede-Freude-Eierkuchen.
Dem Wunsch zum Hohn scheint beim Blick durch den Bildschirm nach draußen die endgültige Spaltung der Gesellschaft über kritischen aktuellen Fragen von Krieg und Frieden, sozialer Gerechtigkeit und dem Umgang mit dem Klimawandel zu drohen. Dissonante Stimmen verschaffen sich lautstark Luft. Die Politik sucht verzweifelt nach Lösungen. Zerwürfnisse spiegeln sich bis in die Familien.
Verbal wird Vereinheitlichung gesucht. So suggeriert bereits die gerne schon am Wahlabend bis zum Überdruss wiederholte Rede vom „Wählervotum“, das Volk als einheitlicher Souverän habe ein Parteienbündnis der Ampelkoalition gewollt.
Doch die Wählerinnen und Wähler hatten sich mit ihrem Kreuz für sehr unterschiedliche und zunächst unvereinbar scheinende Programme ausgesprochen. Und jeder hielt seine nach langer Abwägung mit bestem Wissen und Gewissen getroffene Entscheidung doch zunächst für die alleinig richtige.
Wenn wir nach Einheit streben, wähnen wir uns häufig im Besitz der Wahrheit und wünschen uns, den anderen zu überzeugen und zu unserer Ansicht zu bekehren. Das dahinter lauernde Konzept absoluter Wahrheit speist die Vorstellung, Harmonie sei durch definitive Festlegung auf eine einzige Darstellung zu erzielen.
Wahrheit als Prozess
Die amerikanischen Pragmatisten um William James und John Dewey haben dagegen im Anschluss an Hegel Wahrheit als Prozess aufzufassen versucht. Sie verstehen die Interpretationsmodelle, die auch vermeintlich „reine“ Fakten stets voraussetzen und benötigen, als Theorien, die sich hinführend bewähren, sich im evolutionären Wettbewerb mit anderen Deutungen durchsetzen, sich im wahrsten Sinne des Wortes bewahrheiten müssen.
Von absoluter Wahrheit wollen sie höchstens als idealem Orientierungspunkt in einer fernen, vielleicht niemals erreichbaren Zukunft sprechen, besser sei es, von Überzeugung zu reden.
Die pragmatistische Wahrheitstheorie muss keinesfalls – wie befürchtet oder unterstellt – zur Beliebigkeit einer subjektivistischen oder relativistischen Auffassung der Wahrheit führen, denn unsere Kultur hat wie alle Kulturen vor ihr Instrumente entwickelt, die Michael Hampe „Wahrheitspraktiken“ nennt: verabredete und akzeptierte Vorgehensweisen, wie wir unsere Überzeugungen rechtfertigen können.
Als Beispiele mögen die Beweisverfahren juristischer Prozesse, Peer-Reviews vor Veröffentlichung in den Naturwissenschaften, parlamentarische Kontrollausschüsse oder Recherchen des kritischen Journalismus dienen.
Das vorkommende gelegentliche böswillige Unterlaufen und Verletzen solcher allgemein anerkannten Praktiken ist beunruhigend, doch noch kein generelles Versagen, solange es die Ausnahme bleibt und aufgedeckt wird. Was nicht heißt, dass nicht auch sie der Kontrolle, Revision und Weiterentwicklung bedürfen.
Wenn wir zu sehr auf eine Wahrheit mit Absolutheitsanspruch setzen, von der alle überzeugt oder zu deren Einsicht alle gezwungen werden sollen, verlieren wir den Sinn für den Wert der Vielfalt. Verstehen wir uns dagegen als gemeinsam Suchende nach der richtigen Theorie, der besten Interpretation empirisch erhobener Daten, gewinnen wir die Freiheit, neue Lösungen zu finden.
Aus Widersprüchen etwas Neues entwickeln
Insbesondere in der politischen Entscheidungsfindung gibt es nicht die eine richtige Betrachtung. Hannah Arendt meint sogar, wer hier nach absoluter Wahrheit strebe, lege „die Axt an die Wurzeln aller Politik“. Nur wo Menschen eine Sache in den Mittelpunkt stellen, um sie aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, sind sie in der Lage, sich zu verständigen und miteinander gemeinsam zu handeln – wozu das argumentative Aushandeln ebenso gehört wie eine wirksame Umsetzung, an der sich alle beteiligen.
Die Koalition scheint das gerade auszuprobieren. Schon früh haben die Akteure bemerkt: ein einfaches Schachern nach dem Motto: „Gibst Du mir das, dann bekommst du dies“ funktioniert nicht, wenn man in den Details der Programme so weit auseinanderliegt.
Es lässt sich jedoch versuchen, aus all diesen Widersprüchen eine neue integrierende Perspektive zu entwickeln. Eine Vision, die sich auf geteilte Werte stützt, statt sich an festgelegte Details von Realisierungswegen zu klammern. Wir werden sehen, was dabei herauskommen mag – allein der Ansatz stimmt und das Bemühen wirkt ernsthaft.
Es scheint Hegels Idee der Dialektik als einer schöpferischen Variante des Strebens nach Einheit zu folgen – nicht als Auflösung, Vernichtung, sondern Aufhebung der Widersprüche, in der alle Perspektiven bewahrt bleiben und sich zu etwas Neuem fügen, das im Ursprung schon als Möglichkeit unerkannt enthalten war.
Doch läuft es am Ende in der Demokratie nicht immer auf eine Mehrheitsentscheidung hinaus – was geschieht mit der Minderheit? Bleibt ihr nur, sich murrend oder aufschreiend zu fügen? Oder könnte es gelingen, sie in den Prozess einzubinden? Hegel sieht Widersprüche als Quell der Lebendigkeit. Wenn sie sich verfestigt haben, ist es an der Philosophie, sie wieder zu verflüssigen.
Als Menschen sind wir stets zum Neuanfang fähig
Das wirkt wie eine unlösbare Aufgabe, insbesondere bei Menschen, die jede hinterfragende dialogische Reflexion verweigern. Was wohl nicht hilft, ist eine Haltung des Ressentiments, die den Anderen für verstockt und verwirrt hält und für nicht gesprächsfähig erklärt. Das Zerrbild zementiert sich selbst und verschließt jede Aussicht auf Verflüssigung.
Nur aushaltendes Sich-Aussetzen und In-Kontakt-bleiben ermöglicht es überhaupt, die noch so unwahrscheinlichen Momente des Aufweichens zu erkennen und zu nutzen, um in eine Resonanz im Sinne Hartmut Rosas zu gelangen, die sich auch am Widerständigen wärmeerzeugend reibt.
Eine Abkehr vom Absolutheitsanspruch der Wahrheit zu einem Wettstreit konkurrierender Theorien, die nicht mehr, aber auch nicht weniger als momentane, vorläufige Überzeugungskraft beanspruchen, könnte hilfreich sein. Noch besser, wenn es gelänge, aus widersprüchlichen Ausgangspositionen etwas ganz Neues entstehen zu lassen, in dem sich das oft hinter Dogmatismen verbergende eigentlich Wichtige wiederfindet.
Das ist nicht nur für Hannah Arendt möglich, da wir als Menschen stets zum Neuanfang fähig sind. Manchmal braucht es, wie Henri Bergson uns erinnert, einen, der als erster – scheinbar wider alle Vernunft – versuchte, im Wasser mit Schwimmbewegungen zu beginnen und entdeckte, dass das nicht nur den Kopf über Wasser hält, sondern sogar Vergnügen bereiten kann.
Jede Einzelne darf dabei aber nicht in einer Individualität stecken bleiben, die sich darin erschöpft, gegen den Strom zu schwimmen. Sie muss sich auf eine Allgemeinheit bezogen verstehen, auf der ihre Besonderheit erst beruht und in die sie diese wieder zum Wohle aller einbringen kann.
Nur wenn wir den Versuch nicht aufgeben, aus unvereinbar scheinenden Blickwinkeln eine gemeinsame Vision zu entwerfen, kann das Unerwartete gelingen. Die Baumarkt-Werbung „Mach es zu deinem Projekt“ reicht nicht ganz – das bessere Leben, ob eine gerechte Gesellschaft oder ein klimaneutrales Wirtschaften, muss unser Projekt werden.
Drohkulissen, so nötig sie sein mögen, um den Ernst der Lage begreiflich zu machen, erreichen das alleine nicht – sie bedürfen der Ergänzung durch positive Bilder einer Utopie, in der die Überwindung der Herausforderungen in einem besseren Zusammenleben mündet.
Harmonie erschöpft sich nicht im konsonanten Einklang, sie umfasst im Verlauf ihrer Entwicklung immer auch Dissonanzen. Sie entsteht als dynamische Polyphonie, in der die einzelnen Stimmen ihren Platz suchen und finden müssen, um gemeinsam etwas Größeres, oft Ungekanntes hervorbringen.
Entscheidend ist, die Offenheit für die Suche nach so dringend ersehnten überraschenden Lösungen zu bewahren, anstatt die Verhärtung der Widersprüche voranzutreiben. Vom Einsatz kreativer Phantasie haben wir gerade mal die Anfangstöne vernommen.
Ludger Pfeil studierte Philosophie mit den Abschlüssen Magister artium und Promotion in Bochum und erfüllte diverse Lehraufträge an Universitäten. Keineswegs ein Philosoph im Elfenbeinturm kennt er die Arbeitswelt eines global agierenden Großunternehmens aus Mitarbeiter-, Führungs- und Beraterperspektive ebenso wie die Lebenswelt eines aktiv eingebundenen Familienvaters. Er arbeitet seit 1996 als Philosophischer Praktiker mit Seminaren, Cafés, Workshops und Vorträgen sowie Einzelberatungen. Ludger Pfeil hat zur analytischen Ethik, zur Führungsethik und zur Philosophie im Alltag veröffentlicht. 2015 ist bei Rowohlt sein Buch „Du lebst, was Du denkst“ erschienen.