Philosophische Kolumne
Von der Politik erwarten wir in der Demokratie, das Wohl des Ganzen im Blick zu haben. Ob das nicht auch für Wählerinnen und Wähler gilt, fragt der Philosoph Ludger Pfeil. Er regt anlässlich der Bundestagswahl 2025 zum Nachdenken darüber an, welche Verantwortung mit dem Wählen verbunden ist und wie wir unsere Stimme einbringen, nicht nur am Wahltag.
Am 23. Februar 2025 sind wir in Deutschland wieder einmal aufgerufen, bei einer Bundestagswahl „unsere Stimme abzugeben“. Die Redewendung klingt, als läge die eigene Stimme schon lange fix und fertig in der Schublade und man müsse sie nur noch zu einem bestimmten Ort bringen und überreichen; danach wäre sie dann weg. Diese Vorstellung wird dem Charakter der anstehenden Entscheidung in keiner Hinsicht gerecht.
Karl Popper hat die Demokratie als die Staatsform bezeichnet, in der es möglich ist, „die Regierung ohne Blutvergießen durch eine Abstimmung loszuwerden“. Manche interpretieren den Wahlzettel in diesem Sinne als Denkzettel, den man „den Herrschenden“ erteilt; als Quittung, die man ihnen angesichts der Unzufriedenheit mit ihrer Leistung ausstellt. Doch zu wählen bedeutet mehr als abzuwählen: eine Entscheidung für etwas ist zu treffen.
Was wäre über den Protestreflex hinausgehend einzubeziehen? Reicht der Eigennutz, die Frage, welche Partei in ihrem Programm für meine persönliche Situation die meisten finanziellen Vorteile bietet? Das lässt sich anhand von Tabellen mit Steuerersparnissen je Einkommensgruppe leicht herausfinden.
Schwieriger wird es bereits, wenn die Rede auf unsere Interessen kommt. Ist der Blick auf die kurzfristigen Partikularinteressen des engeren Umfelds, der eigenen Gruppe weit genug? Oder müsste es nicht um das Gemeinwohl gehen, das Gesamtinteresse, in einer befriedeten Gesellschaft mit verlässlichen Institutionen zu leben?
Landen wir gar am Ende bei einer schwer auszutarierenden Entscheidung über Werte wie Gerechtigkeit oder Freiheit? Welche Partei steht wirklich für christliche (oder islamische oder buddhistische) Nächstenliebe, für Solidarität (nicht nur der Arbeiterklasse), für die Erhaltung des natürlichen Lebensraums, für Liberalität und Toleranz oder für die Bewahrung nationaler Errungenschaften, auf die wir mit gutem Gewissen stolz sein dürfen – im Programm und nicht nur im Namen oder in plakativen Sprüchen?
Welche Werte wären anderen unterzuordnen? Liefert maximaler Wohlstand die Grundlage gemeinschaftlichen Glücks oder bilden Fairness und Rücksicht die Basis für zufriedenes Zusammenleben?
Nicht partikulare Interessen sollten die Politik leiten
Zuweilen scheint bei Abgeordneten unserer Tage in Vergessenheit geraten zu sein, was Edmund Burke sich schon 1774 genötigt sah, seinen Wählern deutlich zu machen: „Das Parlament ist kein Kongress von Botschaftern im Dienste verschiedener und feindlicher Interessen, die jeder als Vertreter und Befürworter gegen andere Vertreter und Befürworter verfechten müsste, sondern das Parlament ist die beratende Versammlung einer Nation, mit einem Interesse, dem des Ganzen, wo nicht lokale Zwecke, nicht lokale Vorurteile bestimmend sein sollten, sondern das allgemeine Wohl, das aus der allgemeinen Vernunft des Ganzen hervorgeht.“
Demzufolge wäre nicht das Schielen nach billigem Beifall und Wiederwahl die Grundlage des Regierens sondern fundierte, aus reflektierter Lebenserfahrung gewonnene Überzeugungen. Nur unter dieser Bedingung können politische Entscheidungen Karl Jaspers’ Hinweis einlösen: „Demokratie will die Herrschaft der Vernunft durch die Herrschaft des Volkes.“
Gehörte dazu nicht, dass wir als solches Volk der Wählenden mit dem gleichen Anspruch entschieden, den wir auch an die gewählten Entscheidungsträger stellen sollten: nicht in reflexartiger Aufregung aufgrund aufgeschnappter, kaum „gebildeter“ Meinungen über jüngste Ereignisse und nicht als Repräsentanten regionaler, klientelbezogener Einzelinteressen, sondern mit Herz und Verstand ausgerichtet auf das nachhaltige Wohl des Ganzen?
Unsere Verantwortung als Wählende
Als Wahlberechtigte sind wir in der Demokratie der unbestrittene Souverän. Das bedeutet, dass wir auch souverän mit dieser Macht umgehen müssen, in der die Einzelstimme in der Vielstimmigkeit nur bedeutungslos scheint, aber diese letztlich doch im Zusammenklang mit allen anderen konstituiert. Solche Verantwortung fordert die Fähigkeiten des „mündigen Bürgers“, nach Martha Nussbaum etwa:
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„politische Fragen, die das Land betreffen, gut zu durchdenken, zu prüfen, zu reflektieren, zu erörtern und zu diskutieren, ohne sich einer Tradition oder einer Autorität zu unterwerfen“
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„in seinen Mitbürgern gleichberechtigte Menschen zu sehen, auch wenn sie hinsichtlich Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung anders sind“ und sogar
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„sich um das Leben anderer Menschen zu sorgen, sich bewusst zu machen, was verschiedene politische Ansätze für die Chancen und Erfahrungen der unterschiedlichen Gruppen von Mitbürgern und der Menschen außerhalb des eigenen Landes bedeuten.“
Wir erfreuen uns in Deutschland des global und historisch so gar nicht selbstverständlichen Privilegs, in freier, gleicher und geheimer Wahl mitbestimmen zu können, unter welchen politischen Rahmenbedingungen unser Leben in Zukunft stattfindet. Wenigstens der Wahltag ließe sich in dieser Hinsicht feiern als ein Fest der Demokratie. Wir wissen: was danach kommt, die schwierige Arbeit der Regierungsbildung, das Regieren und Regiertwerden werden weniger glamourös.
Unsere Stimme einbringen
Larmoyante Enttäuschung ist nachempfindbar, aber am Ende doch unangemessen, falls die angestrebten Ideale in der politischen Realität der Legislaturperiode (wie im richtigen eigenen Leben) erneut in pragmatischer Umsetzung und unter schmerzlichen Kompromissen lediglich rudimentär verwirklicht werden können.
Wenn in der Wahlentscheidung der Gemeinwille – „volonté générale“ – per Abstimmung erhoben wird, warnt uns Rousseau, dass keine Regierungsform in so hohem Maße „inneren Erschütterungen ausgesetzt ist als die demokratische“, „weil keine andere so heftig und so unaufhörlich nach Veränderung der Form strebt und keine mehr Wachsamkeit und Mut zur Aufrechterhaltung ihrer bestehenden Form verlangt.“
Er zieht den pessimistischen Schluss: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“ Wir sollten den Versuch nicht aufgeben, Rousseau eines Besseren zu belehren.
Wir sind an diesem Feiertag der Demokratie aufgerufen, unsere Entscheidung zu treffen – nicht unsere Stimme abzugeben, sondern sie einzubringen in die demokratische Vielstimmigkeit. Der Aufwand reiflicher Abwägung lohnt, denn auch danach muss sie nicht verstummen. Wir können sie fortwährend erheben: als unseren Beitrag zur gemeinsamen Meinungsbildung in Gesprächen mit Bekannten, Freunden und Verwandten – in Alltagsbegegnungen, auf Demonstrationen und in Bürgerinitiativen oder der aktiven Mitarbeit in politischen Vereinigungen und Gremien.