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Warum Menschen Frieden wollen, aber Kriege führen

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Eine historische, interdisziplinäre Perspektive

Erst seit ein paar Tausend Jahren führen Menschen Krieg. Die nomadischen Gesellschaften davor waren eher kooperativ ausgerichtet. Ein herausragendes Buch dreier Wissenschaftler, das zeigt: organisierte Gewalt ist nicht angeboren, sondern kulturbedingt. Sie nützt bestimmten Gruppen, aber sie kann beendet werden.

Text: Kirsten Baumbusch

Der Krieg in Europa ist zurück! War der lange Frieden nach 1945 also nur ein kurzes Zwischenspiel? Muss der Mensch gewalttätig sein, weil er gar nicht anders kann? „Nein!“, das beschreiben der Archäologe Harald Meller, der Historiker Kai Michel und der Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe Carel van Schaik in ihrem 364 Seiten starken Buch „Die Evolution der Gewalt“.

Und das formulieren sie so packend, dass es einen bei der Lektüre tief berührt, wenn Jahrhunderte alte Denkmuster kräftig durcheinanderwirbelt und die Sehnsucht geweckt wird, selbst kooperativer und solidarischer zu handeln und Frieden zu stiften.

Wie gehen die Autoren vor? Von Seiten der Anthropologie und Primatologie wird das tierische Erbe in uns freigelegt. Dabei wird das Zusammenspiel von biologischer und kultureller Evolution aufgedeckt. Die Archäologie liefert die Indizien, um die Gewalttaten der Vergangenheit aufzuklären. Und die Geschichts- und Religionswissenschaft erklärt, wie Krieg, Mord und Totschlag Teil unserer Zivilisation werden konnten.

Das Autorentrio erklärt auf Basis fundierter, interdisziplinärer Forschungsergebnisse nachvollziehbar, „warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen“. Die Menschheitsgeschichte, die hier aufgeblättert wird, ist immer auch Wissenschafts- und Geistesgeschichte. So präsentieren sie die aktuelle Forschung über Schimpansen und Bonobos, spüren der Archäologie von Mord und Totschlag seit Anbeginn der Menschheit nach und zeigen, wie der Krieg Despoten und Staaten, aber auch Religionen groß gemacht hat.

Wichtig ist auch der Aspekt, dass Krieg immer und vor allem auch Krieg gegen Frauen ist, das belegen sie seit der Urgeschichte der Menschheit. „Patriarchat und Krieg erblickten gemeinsam das Licht der Welt – als siamesische Zwillinge“, heißt es im Buch.

Gewalt ist nicht angeboren, sondern kulturell bedingt

Eine Welt ohne Krieg, wer sehnt sich nicht danach? Und tatsächlich muss es diese Welt einmal gegeben haben, genauer gesagt 99 Prozent der Menschheitsgeschichte lang, als wir noch Jäger und Sammler waren und weder Besitz noch Agrarwirtschaft kannten.

Das zeigen die drei Wissenschaftler mit beeindruckender Detailtreue und Erzählkunst – und geben dabei spannende Einblicke darin, wie Wissenschaft beobachtet, erforscht, deutet und wie sehr es aufzupassen gilt, dass nicht die eigenen Bewertungsmaßstäbe auf den Forschungsgegenstand übertragen werden.

Fakt ist jedoch: Die Menschen sind per se keine kriegerischen, sondern kooperative, mitfühlende Wesen. Sie verfügen sogar über eine angeborene Hemmung, ihre Artgenossen zu töten. Gewalt ist also nicht genetisch angelegt, sondern ein kulturbedingtes Phänomen. Im Klartext: wir können anders, wenn man uns lässt. Die Sehnsucht nach Frieden ist uns angeboren.

Erst seit ungefähr 5000 Jahren führt der Mensch Krieg. Zuvor, in der Savanne, überlebten nur jene menschliche Nomadengruppen, die einen solidarischen Lebensstil pflegten, sich umeinander kümmerten und sich unterstützten. Mehr noch, gegenseitige Unterstützung in Zeiten der Not begründete den Erfolg der menschlichen Spezies.

„Die Annahme, Gewalt sei uns angeboren, ist also ein Fehlschluss“, das betont Autor und Archäologe Harald Meller in zahlreichen Interviews seit dem Erscheinen des Buches. Diese Annahme indes wird seit mehr als 2000 Jahren unablässig kolportiert. Warum ist das so?

Diese Erzählung war deshalb so erfolgreich, vermutet er, weil die angebliche so gewaltbereite und sündhafte Natur des Menschen ihn zu gut steuerbaren Soldaten gemacht und die harte Hand der Herrschenden und sogar manche Gottesbilder gerechtfertigt habe.

Mit Sesshaftigkeit und Besitz hielt die Gewalt Einzug

Höchste Zeit also, darüber nachzudenken und sich über die Konsequenzen des so gewandelten Menschenbildes klar zu werden. Wann hat die Gewalt begonnen? Das war, so die These des Buches, nach der letzten Eiszeit, als das Klima wärmer wurde. Da gab es auf einmal vor allem an wasserreichen Orten Nahrung in Hülle und Fülle.

Das führte wiederum dazu, dass die bis dato umherziehenden Jäger und Sammler sesshaft wurden, sich eifrig vermehrten und begannen, Nutztiere zu halten und Agrarwirtschaft zu betreiben. Dies ließ allerdings nicht nur viele Zivilisationskrankheiten, sondern auch Eigentum entstehen: Land, in das man viel Arbeit investiert hatte, an dem man dauerhaft mit seiner Sippe zu leben plante.

Das wollte man nicht mehr mit den Anderen teilen, was wiederum von den nun Ausgeschlossenen als Skandal empfunden wurde. Die Sesshaftigkeit war es also letztlich, durch die die Gewalt Einzug hielt und sich fortan ausbreitete. Dieser Teil der Lektüre handelt davon wie die Saat des Krieges aufgeht, wie die männlichen Kriegshelden geboren werden, wie der Staat zur Kriegsmaschine wird und der Krieg zum Lebensprinzip, wie er gegen Frauen und im Namen Gottes geführt wird.

Das ist oft nur schwer auszuhalten. Doch macht gerade diese Qual auch deutlich, wie es zur Annahme der Zwangsläufigkeit kommen konnte und warum wir dabei nicht stehen bleiben dürfen.

Krieg ist eine Bankrotterklärung der Menschlichkeit

400 Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, der sich bis heute vor allem in Deutschland als ein kollektives Trauma vererbt hat, stellen sich die Autoren die berechtigte Frage, warum dem Krieg nicht längst schon der Krieg erklärt wurde. Schließlich ist er „eine Bankrotterklärung aller Menschlichkeit“.

Zumindest ein Bündnis der Staaten dieser Erde zu seiner Verhinderung wäre unbedingt erforderlich, weit über die Charta der Vereinten Nationen hinaus. Dass das nicht passiert, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass das organisierte Töten als unvermeidlich gilt und manchen weltlichen, geistlichen und ökonomischen Herrschenden nützt.

Dabei hat, abgesehen von Seuchen, nichts mehr Menschenleben gekostet und fürchterlichere Konsequenzen für Gesellschaften und Umwelt gehabt als der Krieg. Er ist hauptverantwortlich für Flüchtlingsströme und verschärft die ökologische Krise. Ziel des Buches ist die evolutionäre Aufklärung. Auf Basis aktueller Forschungsergebnisse wird die Vorgeschichte des Krieges vorgestellt und seine evolutionäre Wurzel freigelegt sowie durch die Wucherungen der menschlichen Geschichte verfolgt.

Am Ende ist klar, unter welchen Bedingungen es zu kriegerischen Eruptionen kommt und wer die eigentlichen Kriegstreiber sind. So gesehen, verstehen die Wissenschaftler auch ein wenig als Ärzte, die davon überzeugt sind, erst eine korrekte Diagnose eröffne die Möglichkeit wirkungsvoller Therapien und funktionierender Prävention. Und das ist kein bisschen naiv, sondern unbedingt lesenswert!

Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik. Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte, dtv, 368 Seiten, 2024, 28 Euro.

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