Was ist Freundschaft?

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Ethische Alltagsfragen

In unserer Rubrik “Ethische Alltagsfragen” beantwortet der Philosoph Jay Garfield heute eine Frage zum Thema Freundschaft: “Manchmal rege ich mich über bestimmte Angewohnheiten von Freunden auf, aber ich mag sie trotzdem. Was ist eigentlich Freundschaft?”

Die Frage: Manchmal rege ich mich über bestimmte Angewohnheiten meiner Freunde auf, z.B. wenn sie viel fernsehen oder meine Mails nicht beantworten. Dann habe ich ein schlechtes Gewissen, weil es ja eigentlich tolle Menschen sind, die ich wirklich mag. Das bringt mich dazu, über Freundschaft nachzudenken. Ich frage mich: Was bedeutet eigentlich Freundschaft?

Jay Garfield: Das ist eine wunderbare und sehr tiefgründige Frage. Laut Aristoteles gibt es verschiedene Arten der Freundschaft. Jede einzelne bestimmt unser Leben mit und ermöglicht es uns, auch auf das Leben anderer einzuwirken. Jede Freundschaft stellt Verbindungen zwischen den Mitgliedern unserer Gemeinschaft her und trägt dadurch dazu bei, dass es uns gut geht.

In allen Freundschaften wird ethisches und soziales Verhalten kultiviert und eine Bühne geschaffen, auf der wir dieses ausüben können. Freundschaft hat sehr viel mit Ethik zu tun, denn wir sind soziale Wesen. Ohne Freundschaften ist es nicht möglich, wirklich Mensch zu sein. Ein guter Freund ist ein guter Mensch.

Aber genauso unterschiedlich wie unsere verschiedenen Lebensweisen sind auch die Freundschaften. Es gibt eher oberflächliche Bekanntschaften, zum Beispiel mit der Bedienung in dem Café, in dem wir jeden Morgen Kaffee trinken, oder mit dem Briefträger, der uns die Post zustellt. Das sind keine tieferen Beziehungen, aber Netzwerke solcher Bekanntschaften sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Lebensgemeinschaft. Oft ist uns das nicht bewusst. Wenn wir aber solche Beziehungen pflegen, so erfahren wir wechselseitiges Wohlwollen. Das Wohlergehen der anderen liegt uns am Herzen, und wir zeigen uns freundlich und hilfsbereit.

Dann gibt es Arbeitsfreundschaften, Beziehungen zu Kollegen oder Geschäftspartnern. Das können Menschen sein, mit denen wir sonst nicht viel zu tun haben und über die wir außerhalb der Arbeit kaum nachdenken. Manchmal betrachten wir sie sogar als Rivalen oder Konkurrenten und verlieren dann unsere wohlwollende Haltung.

Dennoch machen die Arbeit und die Menschen, denen wir dort begegnen, einen Großteil unseres Lebens aus. Es macht einen enormen Unterschied, ob wir in einer freundlichen oder feindlichen Umgebung arbeiten. Eine wohlwollende Haltung gegenüber unseren Kollegen einzunehmen und dies umgekehrt auch von ihnen zu erwarten, verbessert unser Arbeitsleben. So kann aus einer lästigen Pflicht eine freudvolle Tätigkeit werden.

Weiter gibt es Freundschaften, die mit Freizeitaktivitäten zusammen hängen und auf gemeinsamen Interessen gründen: zusammen Sport treiben, Musikveranstaltungen besuchen oder in die Kneipe gehen. Solche Aktivitäten suchen wir uns bewusst aus.

Wir sollten solche Beziehungen nicht für selbstverständlich halten, sondern uns bewusst machen, dass sie uns viel Freude und Entspannung schenken; oftmals ermöglichen sie es uns auch, besondere Fähigkeiten zu entwickeln, etwa das Herausbilden von Teamfähigkeiten. Man ist ein gutes Teammitglied, wenn man sich wünscht, dass die anderen Erfolg und Freude an der gemeinsamen Tätigkeit haben und dass es ihnen gut geht.

Dann gibt es die romantischen Freundschaften mit intimen Partnern. Normalerweise beschränken wir uns dabei auf eine oder zumindest nur wenige Personen. Diese Beziehungen ermöglichen es uns, einem anderen Menschen ganz nahe zu sein, ihn körperlich und emotional intensiv kennenzulernen und dabei auch die eigenen Emotionen zu erforschen. Dafür müssen wir Vertrauen, Ehrlichkeit, Verletzlichkeit, eine besondere Aufmerksamkeit und tiefe Hingabe entwickeln, lauter Eigenschaften, die unser Leben unschätzbar bereichern.

Wie gehe ich damit um, wenn ich mich über Freunde ärgere?

Am wichtigsten sind vielleicht die Freundschaften, die Aristoteles “Charakterfreundschaften” nannte. Alle bisher genannten Freundschaften basieren auf einer bestimmten Art von zwischenmenschlicher Beziehung, die entweder geschäftlicher, sozialer oder intimer Natur ist. Es gibt aber auch Menschen, mit denen wir einfach nur deshalb befreundet sind, weil wir großen Respekt für sie haben und eine tiefe persönliche Resonanz spüren.

Wir haben vielleicht nur wenige gemeinsame Interessen, teilen aber in der Regel dieselben Werte. Solche Freunde inspirieren uns. Wir bewundern ihre besonderen Eigenschaften und möchten wie sie sein. Wir wissen, dass wir uns hundertprozentig auf sie verlassen können, und dies gilt auch umgekehrt. In solchen Freundschaften können wir unser menschliches Potenzial voll entfalten. Sie sind selten, aber von langer Dauer.

Bestimmte Merkmale haben alle Freundschaften gemein: Wir möchten, dass es unserem Gegenüber gut geht, sind stets bereit zu helfen, kümmern uns um des Anderen Wohlergehen, wenn auch nur durch kleine Gesten. Und wir genießen das Zusammensein. Die andere Person und die Beziehung zu ihr macht uns glücklich. Diese typischen Merkmale äußern sich in jeder Freundschaft anders, sind aber alle wichtig.

Kommen wir nun zum ersten Teil der Frage: Was, wenn man sich über seine Freunde ärgert? Wie können wir damit umgehen bzw. etwas daraus lernen?

Wenn wir uns bewusst machen, wie wichtig Freunde für unser Leben sind, fällt es uns vielleicht leichter, ihnen ihre schlechten Angewohnheiten nachzusehen. Wie der buddhistische Philosoph Shantideva sagte, können wir versuchen, die ganze Erdoberfläche mit Leder zu überziehen, um unsere Füße zu schonen, oder einfach Schuhe anziehen.

Natürlich ärgern wir uns zuweilen über bestimmte Dinge, die unsere Freunde tun oder sagen. Wir wissen auch, dass es Verhaltensweisen gibt, die sie bei uns stören. Eine Möglichkeit könnte sein, unser Gegenüber vorsichtig darauf hinzuweisen, dass ihr Verhalten uns verletzt oder ärgert. Man sollte aber darauf achten, dass dieser Hinweis im Geiste der Freundschaft geäußert wird, so dass er sich förderlich für die Beziehung und nicht gegen sie auswirkt.

Jay Garfield

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: „Engaging Buddhism. Why It Matters to Philosophy“, Oxford University Press 2015

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