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Weisheit bedeutet heute, Passivität neu zu erlernen

Yunus Tug/ Unsplash
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Ein Interview mit dem Sinologen Kai Marchal

Weisheit spielt in vielen Kulturen und Religionen eine Rolle. Der Fernost-Kenner Kai Marchal verbindet damit eine Lebensform von Passivität und Nicht-Tun. Dazu gehören auch Geduld, eine Verlangsamung des Lebens und ein Denken, das nicht trennt, sondern verbindet. Um die Welt zu verändern, reiche Weisheit jedoch nicht aus, so Marchal.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Wie würden Sie Weisheit definieren?

Marchal: Angesichts der breiten Palette möglicher Antworten, die uns in einem globalen Zeitalter zur Verfügung stehen, würde ich von einer allgemeinen Definition erst einmal absehen wollen und stattdessen Tiefenbohrungen in die verschiedenen Weisheitstraditionen vornehmen.

Bei Sokrates ist die Selbsterkenntnis bekanntlich eine wichtige Quelle der Weisheit: Wer bin ich überhaupt? Was weiß ich? Und sobald ich weiß, dass ich in vielen Belangen nichts weiß, soll ich der eigentlichen Weisheit bereits ein Stück nähergekommen sein.

Aber es gibt ja unzählige andere Versuche, das Wesen der Weisheit zu bestimmen, sei es nun in der Maya-Kultur, bei den alten Ägyptern oder auch bei Philosophen im mittelalterlichen China.

Im Buddhismus spielt die Frage, wer ich eigentlich bin und was ich weiß, auch eine große Rolle, aber mit einem etwas anderen Dreh. Entscheidend ist dort, dass man sich des trügerischen Charakters des eigenen Selbst gewahr wird. Die Vorstellung, dass ich ein Selbst habe, dass ich erkennen könnte, muss als falsch verworfen werden, bevor ich Zugang zur höheren Weisheit erlange. Im Konfuzianismus und im Daoismus gibt es ähnliche Ideen. Dabei ist die Übung wichtig, weniger das intellektuelle Verstehen.

Der Grund dafür ist wohl auch, dass Weisheit eine Kompetenz oder Fähigkeit ist, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Gibt es Eigenschaften dieses Umgangs mit der Welt, die Sie hier benennen würden?

Marchal: Eine Eigenschaft ist Geduld. Ein geduldiger Mensch dürfte der Weisheit oft näher sein als ein ungeduldiger Mensch. Dazu gehört für mich auch eine gewisse Genauigkeit in der Beobachtung und im Gespräch. In einer Gegenwart, die sich immer mehr beschleunigt, scheint es mir dafür wichtig, dass man das Tempo drosselt und in eine gewisse Langsamkeit kommt.

Denn in vielen Situationen heute ist schnelles Handeln gefragt, denken Sie nur an Facebook oder X, wo ein Kommentar oft gar nicht mehr gelesen wird, wenn er nicht sofort niedergeschrieben wird! Jeder behauptet die eigene Singularität, klebt in Wahrheit aber nur an der Aufmerksamkeit anderer Menschen.

Ein geduldiger Mensch hat weniger Furcht vor den anderen. Iris Murdoch spricht außerdem von der „liebevollen Aufmerksamkeit“ für die Mitmenschen, für die Umwelt. Sie meint damit eine bestimmte Weite des Herzens, eine Offenheit, bei der man bereit ist, den eigenen Standpunkt jederzeit zu korrigieren.

Ein Mensch, der liebevoll und selbstlos hinschaut, mag weniger glatt, weniger flexibel sein als seine Zeitgenossen, aber sie oder er wird in bestimmten Situationen eher eine Entscheidung treffen, die wir als weise bezeichnen können. Und jetzt haben Sie doch so etwas wie eine Definition von mir bekommen!

Die Vorstellung einer völligen Freiheit von Fremdbestimmung ist eine Illusion.

Wie sehen Sie dieses Ansprechen von Weisheit im kulturellen Kontext von Säkularisierung und Individualisierung? Wie können wir darauf hinweisen, dass es Fähigkeiten gibt, die uns mit der Wirklichkeit vielleicht besser umgehen lassen? Und dass es auch Wege gibt, diese Fähigkeiten einzuüben?

Marchal: In der Vergangenheit waren alle großen Weisheitsprojekte, sei es nun im Christentum, Buddhismus, Konfuzianismus, immer in irgendeiner Weise an Autoritäten gebunden. Solche normativen Setzungen können wir in der Moderne nicht mehr leicht akzeptieren – aus guten Gründen. Wir im Westen wollen uns solchen Autoritäten gewiss nicht mehr unterwerfen.

Aber auch in einer postchristlichen Kultur können durchaus Imperative fortbestehen, die sich aus christlichen Quellen speisen. Nehmen Sie die Sehnsucht nach Allmacht, nach absoluter individueller Autonomie nicht nur in technologischen, sondern auch in biologischen und kulturellen Belangen, die im digitalen Zeitalter ja besonders viele Menschen erfasst hat. Das scheint mir auch so eine sonderbare Umformung der christlichen Unsterblichkeitsidee zu sein.

Es wäre wohl ein Zeichen von Weisheit, sich klar zu machen, dass die Vorstellung eines völlig herrschaftsfreien Diskurses, einer völligen Freiheit von Fremdbestimmung eine Illusion ist.

Wer in irgendeiner Weise noch an die eigene Kultur anknüpfen möchte, muss zudem bereit sein, bestimmte Dinge erst einmal passiv über sich ergehen zu lassen – so wie ein Kind, das ein Musikinstrument erlernt, ohne zu wissen, ob es je damit Erfolg haben wird.

Vielleicht ist heute in besonderer Weise der Rückzug eine Möglichkeit, Passivität neu zu erlernen. Das war ja immer schon ein wichtiges Element der Weisheitssuche: sich in die Berge zurückziehen, Klöster gründen… Theoretisch kann ich das alles leicht herleiten, aber das Schwierige ist natürlich, im eigenen Leben an eben diesen Punkt zu gelangen.

Es bedarf dabei sicher oft der radikalen Neudeutung uralter Themen. So ist für Konfuzius die Ehrfurcht vor der väterlichen Autorität unverzichtbar für die Suche nach Weisheit; wahrscheinlich müssen wir das heute so umdrehen, dass wir die Ehrfurcht vor mütterlicher Autorität neu erlernen. Oder sogar die Ehrfurcht vor der Macht der Tiere.

Um die Welt zu verändern, reicht es nicht, weise zu sein.

Wie würden Sie die Relevanz von Weisheit in unserer Zeit sehen? In Bezug auf große Probleme wie den Klimawandel fehlt die Weisheit, unser Wissen in Handeln und in kollektive Entscheidungen zu überführen.

Marchal: Es gibt die alte Unterscheidung zwischen der theoretischen und der praktischen Weisheit, wobei erstere eher kontemplativ sei. Weise Menschen neigen oft dazu, kontemplativ zu sein und den kosmischen Abläufen zuzuschauen, ohne eingreifen zu wollen.

Ich bin mir auch unsicher, ob man die individuelle Beschäftigung mit der Weisheit in ein aktivistisches Projekt für eine neue Kultur überführen kann. Um wirklich die Welt zu verändern, reicht es sicherlich nicht aus, weise zu sein. Dazu muss man auch ein sehr starkes Gerechtigkeitsgefühl besitzen und angetrieben sein von einem starken Wunsch nach Veränderung.

Der tiefe Widerspruch unserer Gegenwart zeigt sich ja daran, dass selbst die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung selbstverständlich noch Teil der modernen, fossilen Lebensform sind und ihr auch nicht einfach entkommen können.

Wenn überhaupt eine Transformation möglich ist, dann müssten wir unsere Lebensform radikal verändern. Aus einer Weisheitssicht ist der Konsum ein zentrales Manko, weil wir dadurch innere Bedürfnisse ersatzbefriedigen, statt uns wirklich mit uns selbst zu beschäftigen, uns in uns selbst zurückziehen.

Aber selbst Klimaaktivistinnen benutzen ja heute Smartphones, und ich frage mich oft, ob all diese neuen Technologien nicht tatsächlich systematisch vormoderne, traditionelle Technologien der Selbstdisziplinierung entwerten.

Weisheit überwindet trennendes Denken.

Sehen Sie das gegenwärtige Interesse an Achtsamkeit inklusive ihrer neurowissenschaftlichen Erforschung als ein Zeichen für die Wertschätzung von Weisheitsübungen in unserer Zeit?

Marchal: Tatsächlich gibt es ein sehr großes Bedürfnis nach Spiritualität, das aber oft ins Diffuse, ja Obskurantistische umschlägt. Mein Vorschlag wäre, dass man Laotse und die Bhagavad Gita immer zusammen mit Darwins Entstehung der Arten lesen sollte.

Es gibt heute die Tendenz, aus der so genannten westlichen Moderne auszusteigen und sich im Osten etwas ganz anderes zu versprechen. Dabei wird aber nur zu gern übersehen, dass die Menschen in Fernost nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung dieser Moderne geleistet, sondern sich auch längst wesentliche Errungenschaften der Moderne angeeignet haben, einschließlich der Naturwissenschaften.

Ich finde es sehr bedauerlich, dass die Begegnung mit kulturell andersartigen Welten heute oft im Paradigma der ästhetischen Erfahrung gedacht wird, so als wäre „das Andere“ unsere einzige, verbliebene Utopie. Genau das führt oft zu sehr verkürzten Aneignungen des Fremden, die auch nicht wirklich lebensrelevant werden können.

Wer wirklich einmal den Absprung von Europa oder Nordamerika schafft und in diesen anderen Welten heimisch wird, der muss schnell begreifen, dass viele Versuche der „Dekolonialisierung“ westlichen Wissens doch immer noch binäre Denkformen fortsetzen.

All diese Gegensätze wie Ost/West, männlich/weiblich oder auch weiße/schwarze Kultur werden der Komplexität der wirklichen Welt nicht gerecht. Echte Weisheit hieße hier, genauer hinzuschauen und sich vor allem von einigen medial und manchmal auch akademisch erzeugten Trugbildern freizumachen. Deshalb: Ja, auch die neurowissenschaftliche Erforschung der Weisheit ist sehr wichtig.

Der weise Mensch würde heute stricken.

In welchen Erfahrungsräumen können wir Weisheit kultivieren?

Marchal: Unabhängig von der objektiven Zeit gibt es die erlebte Zeit, die in unseren modernen Kulturen leider oft ausgeblendet wird. Die Beschäftigung mit Träumen, mit den eigenen Wünschen und der Einbildungskraft ist sehr wichtig, um eine innere Balance zu finden.

Auch die Beschäftigung mit dem Mythos, wie sie Ernst Cassirer, C.G. Jung oder Claude Lévi-Strauss im 20. Jahrhundert in ganz unterschiedlichen Kontexten unternommen haben, sollte heute nicht als vernunftwidrig angesehen werden. Sie ist eine unverzichtbare Ergänzung in einer szientistisch geprägten Welt.

Der Nachweis, dass Meditieren den Menschen verändert – und oft zum Besseren, ist bedeutsam. Bei Kindern wäre die Frage, wie man sie für so abseitige Kulturformen wie das Schreiben von Traumtagebüchern oder das Malen von Mandalas begeistern kann.

Hobbys wie Stricken, Malen oder Basteln – wie neulich eine Forschergruppe in England nachgewiesen hat – können mehr zum Lebensglück beitragen als ein hohes Gehalt.

So ein konkretes Tun gibt einem das Gefühl, mit der Welt in einem sinnvollen Kontakt zu sein. Meistens macht man das auch nicht alleine, sondern ist im Austausch darüber, zeigt anderen, was man gemacht hat. Das sind Formen des Umgangs, die auch etwas mit Weisheit zu tun haben.

Marchal: Genau! Weil es eben nicht die Digitalwelt ist, in der wir abstrakte Aufmerksamkeit erhaschen oder uns im Wettbewerb messen, sondern die konkrete, körperlich erlebbare Welt. Wahrscheinlich würde ein weiser Mensch heute so etwas machen. Der Weise würde heute stricken.

Foto: privat

Dr. Kai Marchal forscht als Philosoph und Sinologe über die chinesische Geistesgeschichte. Er lehrt an der Chengchi-Nationaluniversität in Taipeh und arbeitet bei dem interaktiven Web-Projekt METIS des Philosophen Michael Hampe mit, in dem es um die Bedeutung der unterschiedlichen Weisheitstraditionen für die Weltgesellschaft geht.

Mit seinem interkulturellen Blick möchte die Frage nach der Weisheit in unserer Zeit neu beleben. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Im Spiegel Der All-Einheit: Selbst- und Weltbezug im chinesischen Mittelalter“ Klostermann Verlag, 2024.

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