Weisheit heißt, Fakten und Wirklichkeit anzuerkennen

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Interview mit Zen-Meisterin Nicole Baden Roshi

Wenn wir den Kontakt zur Wirklichkeit verlieren, leiden wir, ist die Zen-Meisterin Nicole Baden überzeugt. Sie spricht im Interview über eine offene Haltung als Basis für Weisheit, falsche Gedanken und warum es nicht klug ist, sich mit der Realität anzulegen.

 

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Was ist Weisheit?

Nicole Baden Roshi: Weisheit ist die Fähigkeit, vom Leben und von der Welt zu lernen. Lernen auf der Basis von Mitgefühl, also der Fähigkeit, im Alltag so zu leben, dass wir uns auf mitfühlende Weise entwickeln.

Welche innere Haltung brauchen wir, um in dieses Lernen zu kommen?

Baden Roshi: Ich finde die Haltung der epistemischen Offenheit wichtig – ein Begriff, den der Philosoph Thomas Metzinger oft verwendet. Das spricht eine Haltung an, in der ich bereit bin, aufrichtig hinzuschauen, was gerade ist. Für die meisten Menschen ist die Quelle von Informationen die sinnliche Wahrnehmung.

Epistemische Offenheit geht darüber hinaus. Es ist die radikale Bereitschaft, ehrlich hinzuschauen, was ich gerade wahrnehme, aber auch, wie ich es wahrnehme und wie sich diese Wahrnehmung zusammensetzt. Das entspricht einer buddhistischen Grundannahme, wonach Erleben und Wahrnehmungen konstruiert, also zusammengesetzt sind.

Wir nehmen nicht die objektive Welt wahr, sondern unsere Wahrnehmung von der Welt. Diese setzt sich zusammen aus kulturellen und biografisch geprägten Sichtweisen und der Biologie, die unser Menschsein ausmacht. Weisheit wäre dann die Bereitschaft, hinzuschauen, woraus sich unsere Wahrheit zusammensetzt.

Weisheit ist nicht nur eine Erkenntnis von irgendwelchen Zusammenhängen, sondern zeigt sich im gelebten Leben. Was wäre dann ein weises Handeln?

Baden Roshi: Mir fallen zwei Kriterien ein, die mit der radikalen Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber zu tun haben. Das eine Kriterium ist die Frage: Wie viel beziehe ich gerade mit ein? Ein weiser Mensch bezieht sehr viel mit ein. Wenn ich in einer Situation so tief verortet bin, dass ich die Situation und alles, was in ihr eine Rolle spielt, tief empfinde.

Da merkt man, dass der Verstand nicht mitkommt, es ist ein verkörpertes Wissen. Es ist ein „Ach so! Moment“. Wenn man spürend in dieser Situation verankert ist, dann ist man in Kontakt mit ihr.

Weiter gehört zur Weisheit zu wissen, dass sich die Dinge über die Zeit verändern und dass man bei vielen Dingen ein relativ gutes Gefühl dafür hat, wie sie sich wahrscheinlich verändern werden.

Ein Aspekt der Weisheit ist auch zu wissen, wo man gar nichts tun muss, weil es die Zeit tun wird. Das alles führt zur Entscheidung, die eigene Aktivität ethisch, möglichst wohlbringend, dem Leben zuträglich auszurichten.

Es ist ein großer Fehler, sich von Fakten zu verabschieden.

Worin sehen Sie die Bedeutung der Kultivierung von Weisheit in unserer schwierigen, krisenhaften Zeit?

Baden Roshi: Weisheit ist das, was uns fehlt. Sie ist wichtiger denn je, weil wir technisch mächtiger denn je sind. Und wir richten uns nach allem Möglichen aus, aber nicht nach Weisheit.

Der Kontaktverlust, der sich auch in der Abkehr von Fakten zeigt, ist eine der größten Bankrotterklärungen unserer Spezies. Gesellschaftlich oder politisch kann man über alles Mögliche diskutieren. Da bin ich persönlich offen. Es gibt so viele Perspektiven, so viele Schicksale, so viele Dinge, die zu berücksichtigen sind.

Aber wir machen einen großen Fehler, der sehr viel mit dem Fehlen von Weisheit zu tun hat, wenn wir uns von Fakten verabschieden. Die Loyalität zur Wirklichkeit aufzugeben für eine Loyalität zum Profit ist unser größter Fehler.

Die Fähigkeit, uns Dinge vorzustellen, die es nicht gibt, wird durch unsere technischen Möglichkeiten wie den sogenannten sozialen Medien noch verstärkt.

Baden Roshi: Ja, aber am Ende des Tages gibt es nur die eine Wahrheit. Wir Menschen sind nur eine Kreatur in diesem lebendigen Kosmos auf diesem Planeten Erde. Und wenn wir uns mit der Soheit, der Wirklichkeit anlegen, dann ziehen wir den Kürzeren. Insofern wird sich das langfristig nicht auszahlen, da bin ich mir sicher.

Aktuell sieht es so aber aus, dass es sehr wahrscheinlich zu großem Leid führen wird. Das tut es immer. Leben in der Abkehr von der Wirklichkeit oder Soheit ist zutiefst leidvoll. Wahres Glück werden wir immer nur im Einklang mit der Soheit der tatsächlichen Existenz dieser Welt und unseres eigenen Lebens finden.

Unsere Vorstellungen überlagern den Kontakt zu dem, was ist.

Sie sprechen davon, dass wir den Kontakt zur Wirklichkeit verlieren. Was meinen Sie damit?

Baden Roshi: Als Grundursache für unethisches und leidverursachendes Verhalten sehe ich den Kontaktverlust. Der Kontakt geht verloren, in mir zwischen Ich und Selbst, zwischen mir und meinen eigenen tatsächlichen Empfindungen. Der Kontakt geht verloren zwischen uns, gesellschaftlich und im zwischenmenschlichen Bereich.

Und wir sehen einen Kontaktverlust zum Planeten Erde. Wir verhalten uns so, als ob wir nicht zutiefst eingebunden wären in den Planeten, unsere Mitwelt, all die anderen Wesen. Weisheit bedeutet, wieder in den Kontakt zu kommen.

Wie können wir diesen Kontakt wiederherstellen?

Nicole Baden ist Nachfolgerin von Baker Roshi, Foto: privat

Baden Roshi: Dazu müssen wir uns anschauen, wo der Kontakt verlorengeht. Das hat viel damit zu tun, welche Art von Wesen wir Menschen sind. Wie wir evolutionär als Spezies geworden sind.

Vor ungefähr 70.000 gab es eine sogenannte kognitive Revolution. Das Gehirn hat sich so entwickelt, dass sich unsere Sprachfähigkeit komplexer gestaltet hat. So fingen wir an, uns Geschichten zu erzählen, die nicht mehr nur mit der tatsächlichen physischen Welt, wie sie unmittelbar unseren Sinnen erschien, zu tun hatte.

Wir konnten uns auf einmal Dinge vorstellen, die es in der physischen Welt gar nicht gab. Der „Löwenmensch“, eine Skulptur, die ungefähr vor 35.000 Jahren geschaffen und vor einigen Jahren in Deutschland gefunden wurde, ist ein Beispiel dafür. Ein Mann mit einem Löwenkopf gibt es nicht in der natürlichen Welt.

Diese Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, löst uns auch ein Stück weit los von der materiellen, physischen Welt. Es ist die Fähigkeit zur Abstraktion und Konzeptbildung. Wenn ich ein Konzept Baum habe, dann ist das ein verallgemeinerndes Konzept, das dem Einzelwesen Baum nicht gerecht wird. Dieses Bewusstsein, das evolutionär einen starken Überlebensvorteil bringt, liegt dem Kontaktverlust zugrunde.

Ich blicke aus einer stillen Position heraus, die einfach nur sieht.

Mit welchen Praxisformen kann man dieser Tendenz entgegenwirken?

Baden Roshi: In der buddhistischen Meditation beobachten wir den eigenen Geist. Wir können diesen beobachtenden Aspekt des Geistes kultivieren und ihn dabei relativ frei und leer halten von all den Annahmen, die normalerweise im Geist aktiv sind.

Der Beobachter muss lernen, nicht direkt zu bewerten und noch nicht einmal zu benennen. Dann unterwandern wir die gesamte Grunddynamik des denkenden Bewusstseins. Wir verhindern, dass der Geist in den Kontaktverlust kommt. Und das führt dazu, dass wir beginnen können, den gesamten Prozess zu durchschauen.

Welche Qualität hat dieser innere Blick?

Baden Roshi: Diese Erfahrungsqualität kann man auch Stille nennen. Der beobachtende Aspekt des Geistes fühlt sich still an. Ich blicke aus einer stillen Position heraus, die einfach nur sieht. Sie hat keine Agenda, sie will nichts, sie braucht nichts. Sie ist einfach da und sieht klar, weil sie frei ist.

Es ist eine Freude an der Erkenntnis selbst. Es ist eine grundlose Freude, die damit zu tun hat, dass wir diese fühlenden, lebendigen Wesen inmitten dieser wundersamen Welt sind und das alles erleben dürfen.

Es ist ein Prozess der Befreiung von der Verwicklung. Wofür wird man dann frei?

Baden Roshi: Ich blicke nicht mehr egozentriert, der Blick wird frei. Das kann man körperlich spüren als einen 360-Grad-Blick. Man wird frei für die Offenheit für den Teil der Welt, von dem man selbst gerade Teil ist. Man fragt sich: Was braucht dieser Teil der Welt gerade von mir? Was kann ich geben? Was man dann tut, das hat viel damit zu tun, wer man persönlich ist und was man geben kann.

Aber die Freiheit ist, dass man nicht mehr nur für sich selbst existieren möchte, sondern für das gesamte Netz, von dem man spürt, dass es einen hervorgebracht hat und von dem man ein Teil ist. Man möchte sich in den Dienst stellen von dem, wodurch, womit und wofür man existiert.

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Tatsudo Nicole Baden Roshi ist Lehrnachfolgerin von Zentatsu Richard Baker Roshi, dem Begründer und Hauptlehrer der internationalen Zen-Gemeinschaft Dharma Sangha. Sie ist Äbtin im Zen Buddhistische Zentrum im Schwarzwald und dem Crestone Mountain Zen Center in Colorado, den beiden Praxiszentren der Dharma Sangha. Nicole Baden studierte Psychologie an der Universität in Oldenburg und absolvierte eine körpertherapeutische Ausbildung im Body Mind Centering©. Von 2013-2019 war sie Ratsmitglied der Deutschen Buddhistischen Union. Seit 2024 dient sie im Kuratorium des MBSR-Verbands. 

https://www.dharmaacademy.com/

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