Interview mit Kognitionswissenschaftler
Das menschliche Gehirn ist anfällig für Täuschungen. Weisheit beinhaltet die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu korrigieren. Dazu brauchen wir eine Vielzahl von Weisheitspraktiken, ist Professor John Vervaeke überzeugt. Und: „Suchen Sie Menschen, die Sie herausfordern“. Denn wir können uns am ehesten in Beziehung zu anderen weiterentwickeln.
Das Gespräch führte Mike Kauschke, full English version as audio
Was ist Weisheit?
Vervaeke: Weisheit hat mit der Natur von Intelligenz und verschiedenen Arten von Wissen zu tun und damit, wie man sie zusammenbringt. Die Kognitionswissenschaft bestätigt ein seltsames Paradoxon:
Wir sind intelligent, weil wir in der Lage sind, eine Vielzahl von Informationen zu ignorieren. Der Preis dafür ist, dass wir dazu neigen, auch relevante Informationen unbeachtet zu lassen.
Wir heben die falschen Informationen hervor und beachten daher nicht die Informationen, die wir zur Lösung unserer Probleme benötigen. Das ist Selbsttäuschung.
Aber natürlich wollen wir unsere intelligenzbildenden Prozesse nicht abschalten. Wir müssen in diesen Prozess eingreifen, ohne ihn zu beschädigen. Um Weisheit zu kultivieren, können wir Praktiken finden, die es uns ermöglichen, uns in vielen Bereichen unseres Lebens systematisch selbst zu korrigieren.
Was meinen Sie mit Selbsttäuschung?
Vervaeke: Bei allen verschiedenen Arten von Wissen gibt es mehrere Arten der Selbsttäuschung. Deshalb müssen wir uns fragen: Nehme ich die falsche Perspektive ein? Ist meine Perspektive unangemessen? Trete ich mit der falschen Handlungsweise auf? Übernehme ich die Rolle eines Professors, obwohl ich eigentlich der Vater meiner Kinder sein sollte? Wir können diese Praktiken der Selbstkorrektur entwickeln und sie so miteinander koordinieren, dass sie in Harmonie wirken. Das ist die Grundlage von Weisheit.
Wir brauchen verschiedene Weisheitspraktiken, nicht nur eine.
Das bedeutet, dass Weisheit ein dynamischer Prozess ist, der auf das reagiert, was in der jeweiligen Situation geschieht. Wie können wir diese dynamische Entfaltung in Richtung Weisheit lenken?
Vervaeke: Ich spreche nicht so sehr von Weisheit, sondern eher von der Liebe zur Weisheit, also von der dynamischen, entwicklungsorientierten Entschlossenheit, die Selbsttäuschung zu überwinden.
Keine Praxis allein kann das erreichen. Denn jede Praxis trägt eine gewisse Voreingenommenheit in sich. Wenn wir uns auf nur eine Praxis verlassen, begeben wir uns in eine systemische, langfristige Selbsttäuschung.
Wir müssen also komplementäre Praktiken finden. Wo die eine Praxis stark ist, ist die andere Praxis schwach. Man bringt sie in eine dialogische Beziehung zueinander. Dann tun sie das, was man als wechselseitige Verarbeitung bezeichnet.
Wir sprechen über vier Arten von Praktiken, die man in diesen komplementären Beziehungen anwenden kann: dialogische und imaginale Praktiken, Achtsamkeit und verkörperte Praktiken.
Wie können diese Praktiken auf synergetische Weise zusammenwirken?

Vervaeke: Unsere Kognition ist ungeheuer dynamisch und komplex. Sie organisiert sich selbst und spielt sich auf so vielen Ebenen ab, von denen wir die meisten nicht direkt wahrnehmen können. Man muss sich also von den großen Weisheitstraditionen etwas abschauen:
Weisheit erfordert ein wechselseitiges, komplexes dynamisches System von Praktiken wie zum Beispiel den Achtfachen Pfad im Buddhismus; dazu gehören: Korrekte Ansicht, Achtsamkeit, guter Lebenserwerb und Handeln. In diesem dynamischen, sich selbst organisierenden System unterstützen sich alle Praktiken gegenseitig. Sie alle hängen voneinander ab und gleichen sich gegenseitig aus.
Da Kognition ein sehr komplexes System ist, kann Weisheit nur mit einer dynamischen, mehrdimensionalen, sich selbst organisierenden Ökologie der Praktiken kultiviert werden.
Wenn ich versuche, nur eindimensional in meine Selbsttäuschung einzugreifen, wird meine komplexe Kognition einfach das tun, was sie gut kann: Sie wird sich anpassen und neu konfigurieren, um die Selbsttäuschung aufrechtzuerhalten. So geraten die Menschen in eine furchtbare Spirale, sie verschließen sich, werden fixiert, besessen, süchtig.
Man kann sich diese Praktiken nicht so aussuchen, wie man sich Eiscreme aussucht. Man muss darin dem guten Rat der Weisheitstraditionen und von vertrauenswürdigen Menschen folgen, und auch darauf achten, dass man durch die Praktiken wirklich herausgefordert wird.
Wir befinden uns in einer Sinnkrise, in der wir Bequemlichkeit und schnelle Befriedigung bevorzugen.
Und wo sehen Sie in diesem Prozess die Orientierung, ob man sich in Richtung Weisheit bewegt oder die Selbsttäuschung korrigiert oder nicht? Gibt es darin einen Kompass?
Vervaeke: Man braucht eine Reihe von Merkmalen, die sich alle gegenseitig überprüfen und ausgleichen. Eines der Merkmale ist: Durchlaufen Sie eine wechselseitige Öffnung? Das Gegenteil davon ist das, was in der Sucht vor sich geht, nämlich die wechselseitige Verengung.
Die Welt macht mich ängstlich. Ich trinke viel Alkohol, und das vertreibt meine Angst, aber es schadet meiner Kognition. Ich verliere an kognitiver Flexibilität, und die Welt wird für mich weniger flexibel, weil es immer mehr gibt, mit dem ich nicht umgehen kann.
Jetzt bin ich versucht, noch mehr zu trinken, und das schadet mir. Meine Wahrnehmung verengt sich, gleichzeitig verengen sich die Möglichkeiten in der Welt.
Wie eröffnet die wechselseitige Öffnung eine andere Dynamik?
Vervaeke: Durch die wechselseitige Öffnung sehen wir tiefer in die Welt hinein, und die Welt dringt tiefer in uns ein und richtet uns neu auf die Wirklichkeit aus. Das ist eine wechselseitige dynamische Erfüllung unserer beiden übergeordneten Bedürfnisse nach innerem Frieden und Realitätsnähe.
Wenn ich meine Studierenden frage: „Wie viele von euch wollen wissen, ob euer Partner oder eure Partnerin euch betrügt, selbst wenn dadurch eine wunderbare romantische Beziehung zerstört wird?“ Alle von ihnen sagen: „Ja, das will ich wissen.“ Warum? Weil wir wollen, dass die Beziehung echt ist.
Wir wollen diese beiden Erfahrungen vertiefen, die Selbstverwirklichung und die Verwirklichung der Realität, die in wechselseitiger Öffnung aufeinander abgestimmt sind.
Frage: Brauchen wir also mehr Tiefe im Leben?
Vervaeke: Das berührt ein weiteres potenzielles Merkmal: Wie viel Sinn haben Sie im Leben? Verbessert sich Ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt? Nehmen Sie nicht Ihre Bequemlichkeit als Maßstab. Bemerken Sie Verbesserungen in Bezug auf den Umfang, die Tiefe und die Qualität Ihres Lebenssinns?
Das führt zu einem weiteren Merkmal: Der Sinn des Lebens und die verbesserte Selbst- und Realitätserkenntnis machen Sie umfassender selbstkorrektiv. Bemerken Sie mehr und mehr innere Haltungen, durch die Sie sich selbst täuschen oder sich falsch orientieren?
Das bezieht sich auf ein anderes Merkmal: Welche Tugenden zeichnen sich bei Ihnen ab? Erkennen andere Menschen, nicht Sie, bei Ihnen Mut, Gerechtigkeitssinn, Gelassenheit, Besonnenheit, Mäßigung, einen Sinn für Präsenz?
Tugendhaftigkeit, Selbstkorrektur, Lebenssinn, Selbst- und Realitätsverwirklichung sind die vier Merkmale für die wechselseitige Öffnung, durch die Weisheit wachsen kann.
Wir können uns am ehesten im Kontakt mit anderen Menschen verwandeln.
Wie sehen Sie die Kultivierung von Weisheit in diesem Prozess, den Sie gerade dargelegt haben, im Zusammenhang mit der Situation, in der wir uns als Gesellschaft befinden?
Vervaeke: Das ist das Hauptproblem. Wir leiden an einer Hungersnot der Weisheit. Wir alle leiden unter selbstbetrügerischem, selbstzerstörerischem Verhalten. Wir alle streben danach, tugendhafter zu sein. Wir alle wollen, zumindest intuitiv, den Umfang, die Tiefe und die Klarheit unseres Lebenssinns erhöhen.
Deshalb gibt es diese immer größer werdende Gruppe von spirituellen, aber nicht religiösen Menschen. Sie ahnen, dass ihnen etwas fehlt, aber sie vertrauen den üblichen Institutionen, Religionen, Ideologien nicht, um Weisheit zu kultivieren.
Sie haben ein Gefühl dafür, dass sie Weisheit kultivieren müssen, aber es gibt keinen Ort, dem sie vertrauen – und das aus gutem Grund.
Wir befinden uns in einer Sinnkrise, in der wir Bequemlichkeit, Leichtigkeit und schnelle Befriedigung bevorzugen, während gleichzeitig die Ängste und Aggressionen der Menschen ausgenutzt werden.
Es hat den Anschein, dass viele Menschen ihre eigene Praxis entwickeln, die nichts mit der Tradition zu tun hat. Wie sehen Sie diese Tendenz?
Vervaeke: Menschen, die spirituell, aber nicht religiös sind, begeben sich in eine „Ich-Religion“. Das ist äußerst problematisch. Denn man kann sich in erster Linie durch andere Menschen transzendieren, weil es sehr schwer ist, seine eigenen Vorurteile zu erkennen.
Für Platon ist die Gemeinschaft oder Freundschaft der ganze Weg. Wir müssen in eine dialogische Beziehung mit vielen verschiedenen Menschen treten, nicht nur ein „Bestätigungsporno“ mit Menschen, die unsere Ansichten bestätigen. Suchen Sie sich Menschen, die Sie herausfordern, die Sie aus Ihrer Komfortzone herausholen und Ihnen helfen, sich selbst zu korrigieren.
Wenn die Menschen, mit denen Sie zu tun haben, Ihnen lediglich ein gutes Gefühl geben, haben Sie ein Problem. Bei der Bildung geht es nicht darum, sich gut zu fühlen, sondern gut zu werden.
Wie können wir den Sinn unseres Lebens vertiefen?
Vervaeke: Wir werden von Bullshit und Burnout heimgesucht. Wir hungern nach Flow und Gemeinschaft. Und wir brauchen sie mehr denn je, denn es gibt Menschen, die versuchen, uns durch unsere selbstbetrügerische Voreingenommenheit zu manipulieren. Die Macht, die ihnen mit Sozialen Medien und Künstlicher Intelligenz zur Verfügung steht, wächst täglich.
Die Fähigkeit, uns aufgrund unserer Neigung zur Selbsttäuschung auszunutzen, nimmt massiv zu. Deshalb brauchen wir jetzt mehr denn je Weisheit.
John Vervaeke ist außerordentlicher Professor für Psychologie und Kognitionswissenschaft an der Universität von Toronto. Er forscht und veröffentlicht über die Natur der Intelligenz, Rationalität, Weisheit und den Sinn des Lebens, wobei er den Schwerpunkt auf die Erkenntnis der Relevanz, nicht-propositionale Arten des Wissens und die 4E-Kognitionswissenschaft legt. www.johnvervaeke.com