Wenn Engagement an persönliche Grenzen kommt

The Neutral Studio
The Neutral Studio

Die Aktivistin Nora Wilhelm im Portrait

Nora Wilhelm, 32, engagiert sich seit ihrem 16. Lebensjahr für den sozialen und ökologischen Wandel. Doch der Aktivismus brachte sie an Grenzen, sie erlitt einen Burnout. Wie sie danach weitermachte und was sie in ihrem Leben veränderte, erzählt Mike Kauschke.

Auf einem Podium beim Pioneers of Change Summit in 2024 zeigte sich die Aktivistin Nora Wilhelm verletzlich; sie erzählte offen von ihrem Burnout und wie sie den Weg daraus gefunden hat.

Zu diesem Zeitpunkt war sie schon viele Jahre als Aktivistin, Communtiy-Gründerin und Vortragende aktiv. Der Impuls die Welt zu verändern, erwachte früh. „Ich war schon immer sehr neugierig und hatte einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“, sagt sie mir bei unserem Gespräch.

Den Schritt in den Aktivismus oder die Wandelarbeit, wie sie es gern nennt, ging Nora mit 16 Jahren. Sie sah Bilder von der Abholzung im Amazonas und von dem, was hinter geschlossenen Türen in Schlachthäusern passiert.

Sie begegnete Elizabeth Dallaire, der Frau von Romeo Dallaire, dem Leiter der Blauhelme der UNO während des Genozids in Ruanda 1994; die Friedenssoldaten durften nicht eingreifen, was zur Katastrophe führte.

„Diese Realitäten waren für mich ein Erwachen. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren und gemerkt, wie unfair die Welt sein kann und wie viel Schmerz es gibt“, sagt Nora.

The Neutral Studio

Ab diesem Zeitpunkt war für Nora klar, dass sie für den Wandel leben möchte. Sie arbeitete bei Terre des Hommes und der Jugendabteilung vom Roten Kreuz in Genf.

Sie nahm an UNO-Jugendkonferenzen teil. Zehn Jahre war Nora im europäischen Jugendparlament aktiv, unter anderem auch als Präsidentin der Schweizer Sektion.

„Systemwandelarbeit ist herausfordernd“

Dieser Einsatz war für sie eine Antwort auf das Bewusstsein für das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt. Denn, so sagt sie: „Wenn wir handeln, dann kommt die Hoffnung.“

In 2017, mit 24 Jahren, gründete sie mit anderen die „collaboratio helvetica“. Die Vision war, dass die Schweiz ein Land sein könnte, wo die komplexen Herausforderungen der Gegenwart angegangen werden können.

So wurden zum Beispiel Social Innovation Labs durchgeführt, zu Themen wie Gender oder Kreislaufwirtschaft. Die Strategie war, über die Möglichkeiten des systemischen Wandels zu informieren und zu inspirieren, eine Gemeinschaft aufzubauen und Akteure des Wandels miteinander zu verbinden.

Für Nora wurden diese zahlreichen Aktivitäten zunehmend eine Belastung: „Systemwandelarbeit ist herausfordernd, weil man viel Widerstand der alten Strukturen zu spüren bekommt. An meinem ersten Tag des Projektes waren 70 Organisationen im Raum, die wir miteinander verbinden wollten.

Wir sind mit einer Riesenvision und vielen Erwartungen gestartet. Die Ursachen der Überforderung lagen einerseits an der Schwierigkeit von Systemwandelarbeit, anderseits an diesen projekt-spezifischen Herausforderungen und auch an meinen eigenen Mustern.“

„Ich konnte nicht mehr fühlen, wie es mir ging“

Obwohl sie von einer positiven Vision motiviert war, handelte sie trotzdem oft aus Schuldgefühlen, Druck und Stress. „Wann weiß ich, dass ich an einem Tag alles gemacht habe, was für mich möglich war? Wenn ich fast einschlafe vor dem Computer?“, reflektiert sie über ihre Zweifel.

Nora musste lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu priorisieren, um diese Arbeit nachhaltig und mit Integrität tun zu können. „Integrität bedeutet ja auch: wenn ich eine Zukunft will, in der es den Menschen gut geht, muss ich auch darauf achten, dass es mir selbst gut geht“, erklärt sie.

2021 stellt ein Psychiater bei ihr ein Burnout fest, es folgte ein Aufenthalt in einer Burnout-Klinik. „Ich konnte gar nicht mehr fühlen, wie es mir ging, weil ich so sehr wünschte, dass das Projekt funktioniert,“ berichtet sie über ihre Erfahrung. Als Nora aus der Klinik herauskam, verließ sie einige Monate später „collaboratio helvetica“ und fing neu an.

„Mein Leben hat sich verlangsamt“

Im Juni 2023 begann sie das Projekt „the well • change atelier“. Es entstand aus ihrer Einsicht, dass Changeworker auch für sich selbst sorgen müssen. Sie integrierte nun kreative Aktivitäten wie Tanzen, Musik, Schreiben, Lesen, Poesie in ihren Alltag. Mit “the well” bietet Nora nun unterschiedliche Kunstprozesse an.

„Wichtig ist der kreative Prozess, weniger das Resultat. Mein Leben habe ich stark verlangsamt, um auch für die Grundlagen zu sorgen wie ausreichend Schlaf, Bewegung, Erholung, Ernährung“.

Aber die Wandelarbeit bewegt sie weiter, darum geht es in Noras neuem Projekt „Parayma“. Heute hat sie zwar noch immer große Visionen, fängt aber mit dem an, was sie realistisch aufbauen kann:

„Ich gestalte das Programm, lade Menschen ein, schreibe Blogs, halte den Raum, damit eine Community entstehen kann. Ich sehe mich eher wie eine Gärtnerin, die den Boden vorbereitet, Samen pflanzt und das Wachstum ermöglicht.“

Unterstützung für Changemaker

Mit „Parayma“ möchte Nora Changeworker und Systems Change Leaders unterstützen. Es soll ein Support Hub, ein Unterstützungsort sein, wo Menschen Energie schöpfen können, neue Erkenntnisse und Kontakte finden.

Menschen, die sich für den Wandel engagieren wollen, rät sie, wirklich zu schauen, wo sie einen einzigartigen Beitrag leisten können: „Wo habe ich Zugang und Fähigkeiten, Ressourcen, Netzwerke, gewisse Begabungen, die an einem spezifischen Punkt wirklich nützlich wären?“

Ein weiterer Ansatzpunkt für Nora ist unser Konsumverhalten. „Ich kann mich fragen, wo kommt mein Essen und meine Kleidung her? Wie kann ich mein Verhalten und meine Entscheidungen noch weiter in Einklang mit meinen Werten bringen?“

Ein weiterer Kontext ist unser politisches Verhalten: „Sind wir aktive Bürgerinnen? Gehen wir auf die Straße, sprechen wir mit unseren Nachbarn über die aktuellen Herausforderungen, und was wir als Gemeinschaft tun können? Wenn wir wissen, dass jemand in der Familie rechtsextrem wählt oder hassgetrieben ist, versuche ich in Verbindung zu gehen mit diesen Menschen?“

Wie immer wir uns engagieren, wir brauchen einen langen Atem, das hat Nora gelernt. Dabei hilft es ihr, sich selbst und ihr Handeln immer wieder zu befragen: „Mache ich wirklich das, was gerade mein einzigartiger Beitrag ist? Komme ich näher zur Verkörperung meiner Vision für die Zukunft? Und wie schaue ich auf mich selbst, um lange engagiert bleiben zu können?“

Nora Wilhelm ist eine soziale Innovatorin, Unternehmerin und Forscherin. Sie hat einen BA in International Affairs von der Universität St. Gallen und einen MSt in Sozialer Innovation von der Universität Cambridge. Von 2014 bis 2016 leitete sie das Europäische Jugendparlament Schweiz. 2017 war sie Mitbegründerin von „collaboratio helvetica“. Für ihr Engagement wurde sie unter anderem von Forbes (30 unter 30), UNEP, UNESCO und der Schweizer Regierung ausgezeichnet. Im Jahr 2023 gründete sie das „well – change atelier“ und 2024 „Parayma“. www.Parayma.co

Foto: privat
Foto: privat

Mike Kauschke

ist freier Autor bei Ethik heute. Zudem arbeitet er auch als Übersetzer, Dialogbegleiter und als Redaktionsleiter beim Magazin evolve. Er begleitet auch die Online-Dialoge im Netzwerk Ethik heute. www.mike-kauschke.de

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Louisa Schneider im Amazonas, Foto: Markus Mauthe

Klimakrise: Raus aus der Ohnmacht

Eine Frau engagiert sich Die Journalistin Louisa Schneider will Menschen davon überzeugen, jetzt für den Schutz des Klimas aktiv zu werden. „Alle wissen, was zu tun ist, jetzt müssen wir den Weg gemeinsam gehen“, so die Aktivistin. Portrait einer Frau, die mutig vorangeht.
Foto: privat

Klimapsychologie: “Verzweifeln ist keine Option”

Interview über den Weg, selbst wirksam zu werden Wir wissen viel über die Erderwärmung, doch es hapert bei der Umsetzung. Klimapsychologin Janna Hoppmann berät Firmen, Institutionen und Einzelpersonen, die selbst für den Schutz des Klimas aktiv werden wollen. Im Interview spricht sie über die Überwindung von Ohnmacht, den Mut zum Handeln und die Vision eines guten Lebens für alle.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Ahmed/ Unsplash

Die Kraft des Utopischen

Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung Hoffnung spielt im menschlichen Leben eine große Rolle. Doch die Philosophie entdeckte diese vitale Kraft erst mit Ernst Bloch. Peter Vollbrecht über das „Prinzip Hoffnung“ in der Philosophie Blochs, Sozialutopien und die Kunst des Tagträumens hin zu einer besseren Welt.
Foto: Piotr Rosolowski

„Glaube an Dich, auch am dunkelsten Ort“

Eine Ukrainerin überlebte russische Gefangenschaft Die Ukrainerin Olena Piekh wurde 2018 in ihrer Heimat Donbas entführt und in Gefangenschaft misshandelt. Sie kam frei und lebt heute in Deutschland. An einem öffentlichen Abend erzählte sie ihre Geschichte und wie Liebe und unbändige innere Stärke sie retteten.
Getty Images/ Unsplash

Self-delusion – Why we need wisdom

Interview with Prof. Vervaeke (English) The human brain is susceptible to deception. Wisdom involves the ability to correct oneself again and again. Cognitive scientist John Vervaeke is convinced that we need a variety of wisdom practices for this. And: ‘Look for people who challenge you’. Because we can develop best in relationship with others.
Getty Images/ Unsplash

“Wir leiden unter Selbsttäuschung und brauchen Weisheit”

Interview mit Kognitionswissenschaftler Das menschliche Gehirn ist anfällig für Täuschungen. Weisheit beinhaltet die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu korrigieren. Dazu brauchen wir eine Vielzahl von Weisheitspraktiken, ist Professor John Vervaeke überzeugt. Und: „Suchen Sie Menschen, die Sie herausfordern“. Denn wir können uns am ehesten in Beziehung zu anderen weiterentwickeln.