Philosophische Kolumne: Warum allein das Gute einen Wert hat
Einer Umfrage zufolge, mit welchen Begriffen sich unsere Gesellschaft derzeit beschreiben lässt, sehen über 80 Prozent der Befragten unsere Gesellschaft als „gespalten“ an. Zersplitterungen, Uneinigkeit und Empörung, wo wir hinschauen – je mehr Krisen und Erschütterungen, Sorgen und Ängste Thema gesellschaftlicher Debatten sind, desto tiefer die Gräben.
Berechtigt, notwendig, aufgebauscht, überzogen oder auch nicht – ebendiese Gräben werden in der politischen Landschaft und der medialen Debatte mit großem Eifer weiter ausgehoben, zementiert und oft genug durch rechtspopulistische Vereinfachungen in unterkomplexe Denkmuster eingebettet. Tatsachen, Fakten oder gar konstruktive Lösungen – nicht so wichtig. Das „Dagegen“ ist es, was zählt.
In verbale Entrüstung gehüllt, der es viel zu oft gelingt, auf der Grenze dessen zu tanzen, was sich rechtlich ahnden ließe. Im Bundestag, in Fernsehinterviews, auf Wahlplakaten oder in den sozialen Medien, bösartige Unterstellungen, listiges Grinsen und das Vokabular scheinbarer Fürsorge für die große Masse der Unverstandenen.
Eine besondere Form der Bösartigkeit, die sich manchmal schleichend, manchmal ganz offen und lautstark ihren Weg sucht und immer mehr Wähler*innen für sich zu gewinnen scheint. Warum ist das so und haben wir es hier wirklich mit dem Phänomen des „Bösen“ zu tun?
Fehlender moralische Haltung
Die politische Denkerin Hannah Arendt hat sich in ihrer Auseinandersetzung mit den Ursprüngen totaler Herrschaft der Frage nach dem Wesen des Bösen intensiv gewidmet. In den 1930er Jahren floh sie vor den Nazis und verfolgte die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Greueltaten aus ihrem Exil in New York. 1960/61 berichtete Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess in Israel, in dem der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann zum Tode verurteilt wurde.
In ihrer Beobachtung des Mannes als eines Rädchens in der Tötungsmaschine der Nationalsozialisten, erlebte Arendt eine unerwartete Wendung in ihrer Wahrnehmung des „Bösen“. Nicht das menschliche Monster, das Böse in Person, sondern ein unscheinbarer Mitläufer, der Befehle ausführte, ohne eine moralische Haltung zu beziehen, war das, was dort aus Ausdruck totalitärer Herrschaft in Erscheinung trat.
Ob dieser Eindruck Arendts tatsächlich auf Adolf Eichmann zutraf, wird mittlerweile in der Forschung unterschiedlich gedeutet, dennoch steht eben dieser Eindruck repräsentativ für die Möglichkeit, dass auch das Antlitz des Bösen keinen eindeutigen Zuschreibungen folgt. Es ist wandelbar, es kann sich auch in der Gleichgültigkeit verbergen, die die eigenen Interessen allem überordnet, was an gemeinschaftlichen Werten eine Rolle spielen sollte.
Hannah Arendt kam zu dem Schluss, dass dem „Bösen“ in der Tiefe etwas Banales anhafte, etwas, das zwar zu größter Grausamkeit fähig ist, aber nicht dazu, aus einer Überzeugung heraus etwas zu bewirken. Wie aber begegnen wir einem Phänomen, das sich auf nichts bezieht, als auf die Erhaltung des Eigenen? Dass die Zerstörung des Bestehenden in Kauf nimmt oder gar anstrebt, ohne dafür gute Gründe nennen zu können, die über das Eigene hinausreichen?
Im Dialog mit dem, was anders ist.
Um diese Frage zu beantworten, braucht es Austausch, Dialog, die Offenheit, sich im Verstehen zu begegnen. Derzeit wird viel darüber nachgedacht, mit wem wir wie sprechen können oder sollten, wo ein Dialog möglich ist, und was es überhaupt bedeutet, einen Dialog zu führen. Einig sind wir uns immerhin darüber, dass ein wirklicher Austausch über die eigenen Unterschiede von mindestens zwei Seiten geführt werden muss – verweigert sich die eine Seite den Bedingungen eines offenen Gesprächs, bietet die andere Seite maximal eine Bühne für das, was nicht zu überbrücken ist.
Offenbar lässt sich diese Möglichkeit aber nur in der konkreten Auseinandersetzung ausloten: Gibt es eine letzte Möglichkeit, sich in unser Gegenüber hineinzuversetzen? Können wir den anderen als einen Menschen mit „anderen“ Überzeugungen erkennen, auch wenn wir nicht mit ihm übereinstimmen?
Hannah Arendt beschreibt das Wesen des Bösen als losgelöst von einem begründeten Wertegerüst, das uns in einem Handeln leitet, für das wir Verantwortung übernehmen können. Viele der derzeitig erstarkten Stimmen vom rechten Rand scheinen es allein auf destruktiven Widerstand gegen eine vermeintlich überholte demokratische Welt abgesehen zu haben: Alles, was zählt, ist eine imaginäre Identität, die es zurückzuerobern gilt. Ein irriger Blick zurück in eine voreuropäische Welt nationalistischer Ordnungen, die heute keinerlei Bestand mehr hätte.
Von der Anwesenheit des Guten
Es geht dem „Bösen“ nicht darum, etwas Neues, Gemeinsames zu ermöglichen, sondern etwas Bestehendes zu zerstören, mit zum Teil grausamen Mitteln, die nicht lauthals vor sich hergetragen, aber doch zwischen allen Zeilen herauszulesen sind. Dabei folgt es keinen eigenen Grundsätzen, sondern zeichnet sich durch die Abwesenheit dessen aus, was wir als das „Gute“ erkennen.
Das Gute, das wir in einem gemeinschaftlichen Nutzen anerkennen und im Diskurs immer wieder herausarbeiten können und für das wir uns entscheiden müssen. Hannah Arendt hat den Menschen als ein Wesen beschrieben, das immer wieder einen neuen Anfang machen, sich in den Zwischenräumen gemeinsamer politischer Fragestellungen auf das beziehen lernen kann, was das Wesentliche sein soll, und ebendiese Fähigkeit gilt es zu kultivieren und auszuprägen.
Wir haben uns in unserer Verfassung auf die Grundwerte geeinigt, die wir für ein menschliches Miteinander abgesichert wissen wollen, es gibt eine UN-Charta der Menschenrechte, und damit haben wir als menschliche Gemeinschaft Werte und Überzeugungen festgeschrieben, die die Grenzen von „gut“ und „böse“ markieren sollen.
Dies ist vielleicht die einzige Grenze, die es zu verteidigen gilt, von jedem einzelnen, in kleinen Momenten, in dem sich die Bösartigkeit in unserem Alltag zu Wort meldet, in der Bäckerschlange, am S-Bahnhof oder auf dem Schulhof. Der Abwesenheit des Guten lässt sich allein durch seine Anwesenheit begegnen – und ebendas ist eine Aufgabe, die wir nur gemeinsam bewältigen können.
Ina Schmidt, 30. November 2023
Dr. Ina Schmidt ist Buchautorin, Gründerin einer philosophischen Praxis und Referentin. Sie hat Kulturwissenschaften und Philosophie studiert. Ihre Doktorarbeit prägte ihren Wunsch, Philosophie im Alltag zu fördern. Sie hält Vorträge, Hochschulvorlesungen und Gremientätigkeiten. Ihre jüngsten Sachbücher: „Die Kraft der Verantwortung“ in der Edition Körber (2021) und „Wo bitte geht´s zum guten Leben?“ im Carlsen Verlag (2022). Ihr jüngstes Kinderbuch: “Das kleine Ich auf der Suche nach sich selbst” im Carlsen Verlag (2021).