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Wider die Endzeitstimmung

Foto: Ilka Heckenmüller
Foto: Ilka Heckenmüller

Philosophische Kolumne

Seit über 30 Jahren ist der von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow ausgehandelte INF-Vertrag in Kraft, der Amerikanern und Russen Produktion und Besitz atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen verbot und damit uns Europäern eine rudimentäre Sicherheit vor einem Nuklearkrieg auf unserem Boden gewährte.

Nach einer gliederreichen Kette wechselseitig erhobener Vorwürfe von Vertragsverletzungen kündigte Donald Trump das Abkommen Anfang Februar 2019, was von russischer Seite bereitwillig und fast erleichtert wirkend aufgenommen wurde. Die Zeit läuft – in knapp vier Monaten wird die Kündigung wirksam. Wenige Optimisten hoffen noch auf eine Verlängerung oder sogar Erweiterung mit der Chance, weitere Atommächte wie Indien und China einzubeziehen; konkrete Schritte dazu sind nicht erkennbar.

Bei jedem, der zu Beginn der 80er Jahre in den Bonner Rheinauen gemeinsam mit sage und schreibe einer halben Million Friedensbewegten an den unüberhörbaren Protesten gegen den vorangegangenen Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung genau dieser Waffensysteme auf deutschem Boden teilnahm – der größten Demonstration, die dieses Land je erlebt hat -, löst diese Entwicklung Trauer und Bestürzung aus. Besorgnis ist für alle angeraten, wenn – zusätzlich zu den nach wie vor beschämend zahlreichen Kampf- und Krisengebieten dieser Welt – nun auch hier wieder die Zündschnur ausgerollt wird.

Wachsende Kriegsgefahr bei uns – scheint das nicht zu weit hergeholt? Haben wir nicht genügend andere Probleme? Die Verschmutzung der Umwelt mit Plastikmüll, der seinen Weg in die heimische Blumenerde aus Bio-Abfällen ebenso wie in die Weltmeere und die Mägen der dort lebenden Tiere findet; der gleichzeitig geleugnete und unaufhaltsam erscheinende Klimawandel mit seinen unübersehbaren Folgen; zunehmende populistische und nationalistische Tendenzen in der Weltgesellschaft; …

Doch halt, da lauern toxische Wirkungsgeflechte: Die gefühlte Überforderung der Gesellschaft mit der Bewältigung solcher komplexen Herausforderungen führt dazu, dass sich Verzweiflung allenthalben breitmacht. Bei den Einzelnen ist die massive Zunahme psychischer Erkrankungen offenkundig, der alle Resilienzforschungen und Achtsamkeitsübungen anscheinend nicht genug entgegensetzen können; die aus der Ohnmacht geborene Aggression richtet sich beim isolierten Individuum meist gegen sich selbst.

Auf der gesellschaftlichen Ebene mischen sich Schuldzuweisungen an Fremde und aufkeimender Nationalismus zum inhärent zum Scheitern verurteilten Versuch, der allgegenwärtigen Verstrickung durch Abschottung und Ausgrenzung zu begegnen. Dort wendet sich die Feindseligkeit gegen andere und vergiftet das Zusammenleben.

Theodor W. Adorno macht in seinen Minima Moralia im Aphorismus mit dem Titel „Unmaß für Unmaß“ auf die seltsame Betriebsblindheit der Deutschen vor dem zweiten Weltkrieg aufmerksam. Das Taumeln der Weltwirtschaft hatte in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in eine ausweglos scheinende Lage geführt, doch „das zu erkennen waren alle zu dumm und keiner.“

Die Reaktion, die sich durchsetzte, bestand nicht etwa in Warnung, Ursachenanalyse und Einleitung wirksamer Gegenmaßnahmen, sondern im Versuch der gewalttätigen Vernichtung aufgebauter Schein-Gegner beim Blick in den drohenden Abgrund: „man hat vorweg die anderen hinabgestoßen, des Glaubens, damit von sich selber es abwenden zu können“. Dieser Trugschluss zeitigte die historischen katastrophalen Auswirkungen. Adornos generelle Diagnose lautet: „Bleibt kein Ausweg, so wird dem Vernichtungsdrang vollends gleichgültig, worin er nie ganz fest unterschied: ob er sich gegen andere richtet oder gegens eigene Subjekt.“

Die durch unsere Art des Wirtschaftens in der Welt erzeugten Probleme liegen auch heute für alle offen zutage. Wir können sie nicht bewältigen, in dem wir die anderen ihrem von uns miterzeugten Schicksal überlassen und versuchen, nur die eigene Haut zu retten. Auf der runden Oberfläche der Erde bleiben verschobene Missstände nicht an Ort und Stelle, sondern kehren letztlich in veränderter und oft verschärfter Form wieder. Lösbar wären sie nur durch Verständigung und gemeinsames Agieren statt durch Verschärfung des Konkurrenzkampfes und militärisches Säbelrasseln.

Doch die Brandstifter haben einen mächtigen Verbündeten. Der „Vernichtungsdrang“ entwickelt sich nicht bloß aus dem Gefühl der Hilflosigkeit, er wird darüber hinaus genährt durch eine in uns allen latente Lust am Untergang, am verborgenen Wunsch zur Selbstzerstörung, dem die Romantik als Todessehnsucht Ausdruck verliehen hat. Man braucht gar keinen Freudschen Todestrieb zu bemühen: permanente Überforderung und das Gefühl der Machtlosigkeit genügen, um dieses nekrophile Potential als Aggression gegen andere oder gegen sich selbst als Depression zu befeuern.

Da mag in manchem der Wunsch wachsen, es am Ende wenigstens noch einmal in einem fulminanten Feuerwerk „richtig krachen zu lassen“ und eine nicht geringe Zahl wäre erfahrungsgemäß bereit, sich in eine aggressive Begeisterung hineintreiben zu lassen, selbst wenn an deren Erfolg keiner wirklich glaubte. Ein roter Knopf ist am Ende noch schneller gedrückt als ein Flüchtlingsheim angezündet.

Die Faszination an Weltuntergangsszenarien in dystopischen Filmen und Büchern nimmt – wie in den 80ern – zu. Sie böten die Chance zu kathartischen Erkenntnissen: „Zum Glück ist es noch nicht so“ und „Wir sollten verhindern, dass es dazu kommt“. Destruktiv wirken sie, wenn sie fatalistisches Denken verstärken, tiefe Verzweiflung die Oberhand gewinnt und die Leere der Hoffnungslosigkeit zurückbleibt.

Wenn die Lunte gelegt ist, wird Resignation schnell zum Zündfunken. Zur wichtigsten Bürgerpflicht dieser Tage könnte es werden, der aufkeimenden Endzeitstimmung zu widerstehen. Wenn die Kinder freitags statt in die Schule für ihre Zukunft auf die Straße gehen, um Erwachsene und Politiker augenfällig darauf hinzuweisen, dass ihnen (noch?) nicht alles egal ist, könnte das ein Hoffnungsschimmer sein. Man mag ihnen vieles vorwerfen können (Naivität, mangelndes Expertentum, anarchisches Schulschwänzen, die eigene Verstrickung in zum Lifestyle gewordene Umweltsünden), doch sicher nicht Selbstaufgabe und Defätismus. Noch scheint der Weg in den Untergang in gemeinsamer Anstrengung abwendbar und wir sollten uns – gleich ob frohen oder verzweifelten Mutes – ans Werk machen; und wenn es nur darin bestünde, wieder lautstark darauf zu beharren, dass auch uns noch nicht alles gleichgültig ist.

Ludger Pfeil, 10. April 2019

Ludger Pfeil studierte Philosophie mit den Abschlüssen Magister artium und Promotion in Bochum und erfüllte diverse Lehraufträge an Universitäten. Keineswegs ein Philosoph im Elfenbeinturm kennt er die Arbeitswelt eines global agierenden Großunternehmens aus Mitarbeiter-, Führungs- und Beraterperspektive ebenso wie die Lebenswelt eines aktiv eingebundenen Familienvaters. Er arbeitet seit 1996 als Philosophischer Praktiker mit Seminaren, Cafés, Workshops und Vorträgen sowie Einzelberatungen. Ludger Pfeil hat zur analytischen Ethik, zur Führungsethik und zur Philosophie im Alltag veröffentlicht. 2015 ist bei Rowohlt sein Buch „Du lebst, was Du denkst“ erschienen.

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