Und was gegen Beauty Sickness hilft
Perfekt bearbeitete Fotos von Menschen auf sozialen Medien erzeugen einen enormen Druck, vor allem auf junge Frauen, dem von außen diktierten Schönheitsideal zu entsprechen. Viele fühlen sich in ihrer Lebenszufriedenheit und Selbstwahrnehung eingeschränkt. Ines Eckermann über Beauty Sickness und warum es wichtig ist, Schönheit anders zu sehen.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Die Stiefmutter von Schneewittchen war damals zutiefst gekränkt, als das heranwachsende Schneewittchen sie vom Beauty-Thron geschubst hat. Offenbar war ihr Selbstwert vollkommen an ihr Aussehen geknüpft.
Doch auch diesseits des Märchenlandes ist Schönheit ein wertvolles Gut. Das zeigt sich zum Beispiel am steten Anstieg von kleineren und größeren Schönheitseingriffen. Natürlich liegt das auch daran, dass es immer mehr Methoden gibt. Aber wie fast immer in der freien Wirtschaft entsteht die Nachfrage meist, bevor das passende Angebot da ist.
Spieglein, Spieglein in der Hand, wem gefallen meine Fotos auf Instagram? Einen Grund dafür, dass Menschen häufiger ihr Aussehen ändern, sehen Forschende in der vermehrten Nutzung von Social Media.
Hinzu kommt, dass wir uns gerade während der Pandemie oft in Video-Calls in einem kleinen Fensterchen selbst anschauen mussten: Viel Zeit, um sich permanent mit den aktuellen Schönheitsidealen abzugleichen. Wer sucht, der findet – das stimmt vor allem für all jene, die nach kleinen und großen optischen Makeln suchen.
Körperdysmorphe Störung und Privilegien hübscher Menschen
Bei manchen, vor allem jungen Nutzenden, führt der Konsum der kuratierten und oft auch stark bearbeiteten Bilder im Netz zu einer körperdysmorphen Störung. Die Betroffenen sehen sich ganz anders, meist deutlich dicker und weniger attraktiv, als sie wirklich aussehen. Selbst wenn ihnen bewusst ist, dass viele Influencer ihre Bilder bearbeiten, wünschen sie sich, den neuen, unmenschlich hohen Standards gerecht zu werden.
Das liegt nicht nur am urmenschlichen Wunsch, von anderen gemocht zu werden. Denn zunehmend diskutieren Content-Creator ebenso wie Forschende ein Phänomen namens „Pretty Privilege“ – das Privileg hübscher Menschen. Es bezeichnet die gesellschaftlichen Vorteile, die Menschen aufgrund ihres als attraktiv empfundenen Äußeren erfahren.
Verschiedenen Studien zufolge sind als schön wahrgenommene Menschen im Beruf erfolgreicher. Sie verdienen 10 bis 15 Prozent mehr als ihre weniger attraktiven Mitstreiter. Auch wirken sie auf andere kompetenter, vertrauenswürdiger und freundlicher.
Gut aussehende Schülerinnen und Schüler bekommen bessere Noten. Die Soziologie spricht hier auch vom „Halo Effect“, dem Heiligenschein-Effekt. Dieser bringe uns dazu, schönen Menschen unbewusst mehr positive Eigenschaften zuzuschreiben, auch wenn wir noch gar nicht sicher wissen können, ob diese Person wirklich so toll ist.
Platon: Das Schöne und das Gute
Dieses Phänomen gab es bereits in der Antike. So glaubte beispielsweise der Philosoph Platon, dass Schönheit etwas Objektives sei. Physische Schönheit hielt Platon für flüchtig. Dennoch ging er davon aus, dass jeder Mensch einen angeborenen und beständigen Sinn für das Schöne habe.
Das Schöne war für ihn auch gleichzeitig das Gute. Doch Schönheit sei immer mit einem „inneren Maß“, also mit Tugenden und der inneren Harmonie verbunden. Vermutlich fiel Platon dabei nicht dem Halo-Effect anheim. Für ihn ist Schönheit vielschichtiger als nur die Bewertung der Oberfläche.
In der Aufklärung kam zunehmend die Idee auf, dass Schönheit im Auge des Betrachters liege. Diese Schönheit beschrieb zwar überwiegend die Schönheit des Äußeren eines Menschen. Und doch ließ sie viel Raum für Unterschiede und machte vermeintliche Makel als etwas fest, das einen Menschen einzigartig und dadurch besonders liebenswert und schön machte. Und heute? Da fragen wir uns immer noch: Was ist schön?
In den letzten Jahrzehnten zeigten wissenschaftliche Studien, dass sich Schönheit tatsächlich in gewisser Weise berechnen lässt: Vor allem geht es um die Symmetrie des Gesichts, das Verhältnis der Fettverteilung des Körpers und klassische Fruchtbarkeitsmerkmale wie jugendliche Haut und volles Haar.
Wenig überraschend sind dies auch die Merkmale, die vielen aktuellen Schönheitsidealen zugrunde liegen. Doch zunehmend steht die Tendenz in der Kritik, dass seit einigen Jahren nicht nur die Kleidung, sondern sogar die Körperform der bestimmten Moden unterliegt.
Und glauben wir den sozialen Medien, ist Schönheit heute vor allem dann gegeben, wenn wir uns den Schönheitsidealen unterordnen: eine schlanke, aber kurvige und zugleich sportliche Figur, glatte, makellose Haut, volle Lippen, ein kaukasischer Hautton, dichte, lange und idealerweise blonde Haare, abgerundet von einem möglichst natürlich aussehenden Makeup.
Schönheitsideale: vor allem ein Problem für Frauen
Spieglein, Spieglein… so sehe ich aber gar nicht aus! Denn auch wenn die Mehrheit der Influencerinnen und Influencer genau diesen Idealen entsprechen, die sie zuvor selbst erfunden haben, sehen die meisten Nicht-Influencer meist ganz anders aus: normal eben. Und das ist eigentlich auch kein Problem. Eigentlich. Vor allem wenn man ein Mann ist. Denn Beauty Sickness stresst vor allem Frauen.
In Büchern, die zwischen 1500 und 2008 veröffentlich wurden, fanden Forschende vor allem Beschreibungen von Frauen, die sich auf deren äußere Erscheinung bezogen; bei Männern waren es eher Beschreibungen ihres Charakters.
In ihrem Buch „Beauty Sick: How the Cultural Obsession with Appearance Hurts Girls and Women” untersucht die Psychologin Renee Engeln die tiefgreifenden und oft schädlichen Auswirkungen der kulturellen Fixierung auf körperliche Schönheit. Sie befürchtet, dass die aktuellen Standards und die Forderung, dass vor allem Frauen schön sein müssen, vielen Mädchen und Frauen schade.
Medien und Werbung setzten, so Engeln, unrealistische Standards. Filter und professionelle Bildbearbeitung täten dabei ein Übriges. Dieser kulturelle Druck wirke sich auf die Psyche aus, vor allem auf das Selbstwertgefühl.
Denn nach und nach treten die Persönlichkeit oder moralische Werte in den Hintergrund, um der Schönheit als übermäßigem Kriterium für den Wert eines Menschen mehr Raum zu geben. Dadurch kreisten die Gedanken und Gefühle vor allem junger Frauen und Mädchen verstärkt um ihr Aussehen.
Sie investieren Zeit und oft auch Geld, um so auszusehen, wie es von ihnen vermeintlich erwartet wird. Und was ist mit den älteren Frauen? Sie haben in unserer Gesellschaft ohnehin verloren. Denn wer sich erdreistet, optisch zu altern, ist schamlos, gibt die Beauty-Industrie zu verstehen.
Ältere Frauen sind in den Medien kaum vertreten. Dafür sind sie in den Marketing-Abteilungen von Kosmetik-Firmen umso präsenter. Denn mit der Angst vor dem Altern lässt sich immer mehr Geld verdienen. Engeln ruft deshalb zum Widerstand auf: Sie fordert Frauen auf, sich zu empören, sich nicht länger den unrealistischen Standards zu unterwerfen.
Denn Frauen sollten nicht länger auf Biegen und Brechen den Vorlieben heterosexueller Männer entsprechen wollen. Um die Beauty Sickness zu überwinden, müssten wir, so Engeln, die kulturellen Normen verändern. Und dazu gehört auch, dass Schönheit wieder individuell sein – und unter die Haut gehen darf.
Die Schönheitsrevolution: das Ende von Beauty Sickness
Der antike Philosoph Epiktet glaubte: „Du bist nicht dein Körper und deine Frisur, sondern die Fähigkeit, richtig zu entscheiden. Wenn deine Entscheidungen schön sind, wirst du es auch sein.”
Und vielleicht hatte er damals bereits den richtigen Riecher. Doch in der Antike sagte man ebenso, dass in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist wohnt. Nach heutigen Maßstäben soll nur in einem schönen Körper auch ein zufriedener Geist wohnen können.
Doch genauso, wie auch in einem kranken Körper ein gesunder Geist wohnen kann, dürfen wir wohl auch mit einem nicht-perfekten Körper zufrieden sein. Denn warum sollten wir anderen Menschen einen bestimmten Anblick schuldig sein?
Vielleicht brauchen wir eine Beauty Revolution: eine Bewegung, die den Wert eines Menschen weg von seinem Äußeren hin zu dessen inneren Werten führt. Dann dürfen wir uns schön fühlen, weil der Körper stark und gesund ist. Oder weil unsere Narben ein Zeichen dafür sind, dass wir den Widrigkeiten des Lebens getrotzt haben.
Vielleicht sind wir schön, weil sich viele Sommer in unsere Haut gegraben haben. Vielleicht zeigt unser Körper, dass wir gut kochen können – und auch das ist Schönheit.
Vielleicht hören unsere Augen dank unserer Krähenfüße nie auf zu lachen. Vielleicht liegt Schönheit nicht im Auge des Betrachters – sondern allein in unserer Einstellung zu uns selbst.