Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Suche
Close this search box.

Wie können Männer sich neu erfinden?

Brooke Cagle I Unsplash
Brooke Cagle I Unsplash

Über Männerrollen jenseits des Patriarchats

Das Patriarchat steht schon lange nicht mehr nur für Machos, die Frauen dominieren wollen, sondern für ein System von Dominanz und Ausbeutung, das die Lebensgrundlagen auf der Erde zerstört. Wie lässt sich Mannsein anders gestalten und ein kooperatives Miteinander in der Gesellschaft erreichen? Eine Analyse von Geseko von Lüpke.

Gibt es das überhaupt noch: den typischen Mann? Der die Klischees irgendwo zwischen bayerischem Holzhacker-Buam und spülendem Ehegatten, zwischen Baby-Wickler und feschem Liebhaber, zwischen Versorger und Kumpel ausfüllen kann? Mann-Sein ist kompliziert geworden.

„Meine Frau machte einmal eine abwertende Bemerkung über Männer. Dann dachte ich, da will ich hinschauen“, erzählt Familienvater Ingo Laupheimer, 50 Jahre alt. „Mir fiel auf, was alles schiefläuft und was wir für komische, ungute Sachen machen – uns selbst, dem anderen Geschlecht und überhaupt der Mitwelt gegenüber. Da wollte ich nicht mitmachen“.

Laupheimer hat zwei Jungs aus erster, ein Bonus-Kind in der zweiten Ehe. Er absolvierte eine Ausbildung zum Heilpraktiker und eine zweite zum systemischen Therapeuten. Er lebt auf dem Land. Sein Geld verdient er als Pfleger bei Menschen mit Behinderung. Die Freizeit verbringt er zum Teil mit seinen gut Dutzend Ziegen, mit denen er den Touristen Spaziergänge anbietet. Ein Leben wie ein bunter Flickenteppich mit dem ständigen Versuch, allen Ansprüchen gerecht zu werden: seiner Rolle als Vater, als Sohn, als Partner, als Pfleger auf der Arbeit, als Bauer. „Und dann bin ich natürlich auch noch der Ingo im normalen Alltag.“

Wann ist ein Mann ein Mann?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten! „Es gibt ein Drittel von insbesondere auch jungen Männern, die das als Herausforderung annehmen und sich fragen: Ja, wie geht denn das – anders Mann sein, feministisch Mann sein?” erklärt der Psychologe und Leiter der Progressiven Männerbewegung in der Schweiz, Markus Theunert.

„Auf der Gegenseite gibt es ein Drittel, das jede Auseinandersetzung mit Männlichkeit abwehrt aus der Logik heraus: Mannsein ist biologisch gegeben. ‚Ich bin einfach Mann‘. Und das geht dann einher mit der Verteidigung der traditionellen Geschlechterordnung. In der Mitte sind Männer, die einerseits Egalität befürworten, gleichzeitig jede Auseinandersetzung mit Männlichkeit für sich selbst abwehren.“

Angesichts der großen Unsicherheit männlicher Identität ist ein ideologischer Kampf entbrannt um die Frage, ‚Wann ist ein Mann ein Mann?, wie es in dem Song von Herbert Grönemeyer anklingt. Lange Zeit hatte die emanzipatorische Frauenbewegung in ihrer berechtigten Kritik an männlichen Privilegien den Fokus auf das Patriarchat gelegt – als historische Herrschaft der Männer über die Frauen.

Der Kampf für Frauenrechte war zugleich ein Ringen gegen patriarchale männliche Dominanz. Doch die Auseinandersetzung mit der Klimakrise, mit rechtem Populismus, mit einem erstarkten Rassismus erkannte im männlichen Herrschafts- und Kontrollmodell viel mehr als nur die Wurzel für die Ungleichheit von Mann und Frau.

Das Patriarchat zerstört die Lebensgrundlagen

Die Geschlechterforschung, aber auch die Kultur-, Geschichts- und politische Wissenschaften sehen heute im rund 3.000 Jahre alten System des Patriarchats ein Grundmuster für hierarchische Herrschaft, repressive Kontrolle, Unterdrückung und Entfremdung. Hier liegt die historische Wurzel von Kolonialismus, Sklaverei, Krieg, Unterdrückung, religiösem Fundamentalismus und Diktatur.

Heute gefährdet das, so die österreichische Politologin Simone Wörer, auch die Schöpfung: „Das Patriarchat und seine lebensfeindlichen Methoden sind letztendlich dafür verantwortlich, dass wir uns an einem Wendepunkt nicht in der Menschheitsgeschichte, sondern in der planetaren Geschichte befinden.

Dieses System geht so weit, dass es die gesamten Lebensgrundlagen zerstört.“ Eine Sicht, die einen gänzlich neuen Blick auf die Krisen der Gegenwart fordert. Wenn Kapitalismus, Ausbeutung der Natur oder globale Ungleichheit möglicherweise erst den patriarchalen Mustern von Hierarchie, Macht, Gewalt und Kontrolle entspringen, dann reicht Patriarchats-Kritik weit über die Geschlechterkonflikt hinaus.

Dann muss man sich auch nach Männerrollen jenseits des Patriarchats umschauen, sagt Markus Theunert. „Denn Männer sind nicht das Patriarchat. Das Patriarchat ist auch nicht die Herrschaft der Männer – nicht mehr. Das Patriarchat ist Herrschaftsprinzip, Strukturprinzip, eine Art Gesellschaft zu organisieren.

Nach der patriarchal geprägten Grundüberzeugung gibt es keine Alternative zum Prinzip Ausbeutung. Ich meine dabei sowohl die Ausbeutung seiner selbst wie auch die Ausbeutung von anderen und der Natur. Das Patriarchat ist das Grundübel, das hinter gesellschaftlicher Ungleichheit, hinter Krieg und Gewalt und hinter der ganzen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen liegt.“

Männer sind privilegiert und Opfer zugleich

Patriarchate positionieren Männer über Frauen, Mensch über Natur, ‚höhere‘ Wesen über ‚niedere‘. Die neue Sicht der Geschlechterforschung macht klar, dass patriarchale Gesellschaften und ihre Hierarchien zerstörend wirken – auf Frauen wie Männer, auf den Frieden in der Welt, auf soziale Systeme und die Natur, auf Gesundheit von Körper und Geist.

Zwar haben Männer Vorteile von der patriarchalen Gesellschafts-Struktur, sind zugleich aber auch deren Opfer. Denn sie müssen genügen, ob sie es wollen oder nicht. Wirken sie nicht als hart, stark, souverän, kontrolliert, rational, gelten sie als Versager, Weicheier, Memmen.

In Furcht vor sozialer Ächtung sind Männer deshalb im konstanten Stress, verdrängen ihre eigenen Zweifel, verleugnen nicht selten ihre Gefühle und verweigern jede kritische Innenschau.

Ingo Laupheimer erlebte diesen Zustand lange als so normal, dass er kaum noch spürbar war: „Wenn ich anfange zu fühlen, dann kommt ganz viel hoch. Diesen inneren Raum zu betreten, macht Angst. Und weil ich das nicht möchte, betrete ich den inneren Raum nicht und schließe meine Gefühle weg.“

Die psychologischen Konsequenzen dieses Zustands sind immens. Wer sich nicht fühlt, in sich nicht zu Hause ist, Emotionen verdrängt, bleibt im Außen, kompensiert seine Emotionen und kopiert tradierte Muster und Rollen.

Orientierung nach außen, statt Fühlen im Innern

Der Diplompädagoge und Männer-Coach Frank Fiess zeigt Männern deshalb wieder Wege nach Innen: „Jeder hat auf seine Art gesagt: ‚Ich habe gelernt zu funktionieren als Mann. Ich habe gelernt, meinen Mann zu stehen, gut oder schlecht. Aber fühlen? Fühlen hat mir niemand beigebracht!‘”

Und so haben Männer ihre Kompensationsstrukturen: Der eine arbeitet viel, der nächste raucht, ein anderer säuft, oder sie sind sexsüchtig. Oder sie sind so verschlossen, dass Liebe in einem größeren Sinne kaum noch durch sie durchfließen kann.“ Theunert sieht hier ein politisches und soziales Minenfeld: „Überall dort, wo der Mann bedürftig ist, ist er bedroht. Das ist das Drama des modernen Mannes, dass die Innenwelt kein geschützter Ort ist.

Ein Ort, an den ich mich immer zurückziehen kann, insbesondere in Momenten von Bedrohung, von Unsicherheit. Sondern selbst ein Ort der Bedrohung ist, weil dort eben die Schwäche und die Angst lauern. Und was passiert, ist außen: möglichst viel konsumieren, sich ablenken, viel in der Darstellung leben – mehr Schein als Sein.“

Wir brauchen ein kooperatives Miteinander

Doch welche alternativen Rollenmodelle stehen den Männern nach Jahrtausenden patriarchaler Herrschaftsmuster heute zur Verfügung? Hier lohnt ein Blick auf jene Kulturen der Welt, die sich der hierarchischen Herrschaft verweigert haben.

Die Tuareg der Sahara gehören dazu, die Buschleute im südlichen Afrika, die Inuit im hohen Norden, indigene Völker in Indien, China, Indonesien, viele ‚First Nations‘ in Amerika. Fragt man Männer in sogenannten ‚matriarchalen‘ Kulturen wie den jungen Sqamish-Medizinmann David Archie von der kanadischen Westküste, dann wird deutlich, dass es da nicht um eine bloße Umkehrung der Machtverhältnisse in eine ‚Weiberherrschaft‘ geht, sondern um Egalität, Gleichberechtigung und ein kooperatives Miteinander:

“Unsere Kultur ist matriarchal. Wir respektieren die Frauen und folgen ihrem Rat. Sie geben das Leben, ähnlich wie Mutter Erde, die uns erhält. Sie bringen uns zur Welt, geben uns Nahrung und lehren uns. So funktioniert unsere Gesellschaft, in der alle gleich sind.

Das beginnt mit den Ältesten und ihrer Weisheit, über die Männer, die das Volk beschützen, den lebensgebenden Frauen bis zu der Jugend, die die Zukunft sind. Jede Stimme wird gehört. Das Patriarchat hat das verloren und alles aus dem Gleichgewicht gebracht.“

Es geht darum, sich seiner selbst bewusst zu sein.

Matriarchale Gemeinschaften sind basisdemokratisch, egalitär, haben eine kooperative Ökonomie und eine naturverbundene Religion. Ein Modell? Sicher kann es sicher nicht darum gehen, zurückzukehren zu indigenen Stammesgesellschaften.

Doch der Blick in andere Welten zeigt, dass es Alternativen gibt, in denen es Männern gut geht und die jenseits sind von Macho-Herrschaft, Hierarchie und Kontrolle.

Mann-Sein, so zeigt sich hier, ist nicht biologisch festgelegt, sondern kulturell und sozial gestaltbar. Die männliche Sozialisation kann schon in Kindheit und Schule verändert werden, später am Arbeitsplatz, in der Familie und Gemeinde.

Das heißt nicht, in Scham und Selbstanklage konturlos zu werden, sondern aufzuräumen, männliche Privilegien abzulegen, das patriarchale Muster in sich kritisch anzuschauen, Verantwortung übernehmen, inneren Wandel einleiten. Und dabei zu den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Visionen zu stehen und sie erwachsen selbst zu erfüllen.

Es bleibt eine Gratwanderung: Nicht Zurückzufallen in den täglichen Konkurrenzkampf, der Größte und Stärkste zu sein. Und auch mit Werten, die bislang eher als ‚feminin‘ galten, gut und sicher seinen Mann zu stehen.

Wann ist ein Mann ein Mann? Ingo Laupheimer hat eine Idee: „Selbstbewusst sein! Sich-selbst-bewusst sein und dann in sich reinspüren. Dann kommt das, was ich bin und nicht das, was ich sein möchte oder darstellen möchte.“

Geseko von Lüpke

Mehr Infos

Rohr, Richard: Adams Wiederkehr. Initiation und Männerspiritualität, Claudius-Verlag 2019

Theunert, Markus: Jungs, wir schaffen das. Ein Kompass für Männer von heute, Verlag Kohlhammer 2023

Website für Männer: Mann-Sein in einer Welt der Krisen

Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.

 

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

obi pixel/ Unsplash

Wie das Streben nach Schönheit krank macht

Und was gegen Beauty Sickness hilft Perfekt bearbeitete Fotos von Menschen auf sozialen Medien erzeugen einen enormen Druck, vor allem auf junge Frauen, dem von außen diktierten Schönheitsideal zu entsprechen. Viele fühlen sich in ihrer Lebenszufriedenheit und Selbstwahrnehung eingeschränkt. Ines Eckermann über Beauty Sickness und warum es wichtig ist, Schönheit anders zu sehen.
Unsplash

Muslime unter uns

Eindrücke aus Hamburg Es gibt hartnäckige Vorurteile gegenüber Muslimen, doch selten kommt man miteinander in Kontakt. Reiner Scholz hat sich in einem Viertel in Hamburg umgesehen und mit Muslimen gesprochen, die ein normales Leben führen wollen, aber wenig Anerkennung der Mehrheitsgesellschaft erfahren. Viele sind besorgt sind über den Islamismus.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

KI-Bild von Teresa von Avila, in die heutige Zeit gesetzt, Foto: Midjourney

Mystik trifft Zukunft

Wie Teresa von Ávila Meditation und Handeln verbindet Teresa von Ávila ist als christliche Mystikerin in die Geschichte eingegangen. Mit ihrer handlungsorientierten Achtsamkeit könnte sie einen Schlüssel für die Lösung unserer Probleme in der Hand halten. Sie sah die Meditation und Stille als Quelle für das Handeln an und begründete eine Spiritualität, die ein Handeln aus Liebe ins Zentrum rückt.
Foto: privat

Hirn und Herz verbinden

Audio-Interview mit dem Herzchirurgen Dr. Friedl Das Herz hat die Qualitäten des Fühlens, der Fürsorge und Liebe. Es arbeitet ununterbrochen, damit wir leben können. Herzchirurg Dr. Reinhard Friedl  empfiehlt im Interview, dem Herzen Pausen zu gönnen, auf die innere Stimme zu hören und öfter dem Herzen zu folgen.
obi pixel/ Unsplash

Wie das Streben nach Schönheit krank macht

Und was gegen Beauty Sickness hilft Perfekt bearbeitete Fotos von Menschen auf sozialen Medien erzeugen einen enormen Druck, vor allem auf junge Frauen, dem von außen diktierten Schönheitsideal zu entsprechen. Viele fühlen sich in ihrer Lebenszufriedenheit und Selbstwahrnehung eingeschränkt. Ines Eckermann über Beauty Sickness und warum es wichtig ist, Schönheit anders zu sehen.
Marc Pell/ Unsplash

Begegnungen in der Wildnis

Wie wir das Lebendige achten In einem Wald, der sich selbst überlassen ist, pulsiert das Leben. Mike Kauschke war in so einem Wald unterwegs und erlebte magische Momente. Er kam in Kontakt mit Bäumen und Pflanzen, begegnete Tieren und konnte spüren, dass die Natur belebt ist.
Brooke Cagle I Unsplash

Kategorien