Interview über eine schwierige Emotion
Scham ist eine Grundemotion des Menschen und für die persönliche Entwicklung zentral, sagt die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle. Gleichzeitig wird Scham instrumentalisiert, im Politischen und Privaten. Wichtig sei, sich Schamgefühlen zu stellen. Eine wache Auseinandersetzung ermögliche mehr innere Freiheit.
Das Gespräch führte Birgit Stratmann
Frage: Scham ist in unserer Gesellschaft ein heikles Thema, über das nicht so gern gesprochen wird. Was ist eigentlich Scham?
Bennent-Vahle: Die Scham ist eine der Grundemotionen des Menschen. Es gibt sie in allen Gesellschaften, weil sie Teil der menschlichen Natur ist. Als Menschen sind wir einerseits Einzelwesen und können uns zu uns selbst in Beziehung setzen. Zugleich sind wir soziale Wesen und bewerten uns immer auch im Kontext mit anderen Menschen. Beides macht uns anfällig für Scham – etwa, wenn wir nicht den Vorstellungen entsprechen, die wir von uns selbst oder die andere von uns haben.
Gibt es ein gesundes Schamgefühl? Wenn ich mich schäme, weil ich jemanden beschimpft habe, kann ich mein Verhalten das nächste Mal ändern. Ist Scham ein Mittel der Selbstkorrektur?
Bennent-Vahle: Die Scham ist für unsere persönliche Entwicklung eine ganz zentrale Erfahrung. Allerdings kommt es auf die Dosierung an. Wenn Kinder beschämt werden, erleben sie diese Scham als unerträglich und werden nach Auswegen suchen, um die Scham nicht zu spüren. Dieses Verhalten kann sich verfestigen. Normalerweise ist die Scham ein Zustand, in dem wir eine gewisse Diskrepanz zwischen Ideal und Realität erleben, und das ist eine wichtige Erfahrung dafür, uns weiterzuentwickeln.
Welche Varianten der Scham gibt es?
Bennent-Vahle: Die Scham hat verschiedene Formen. Eine Form kann sich auf die äußere Erscheinung oder ein Verhalten beziehen: Ich bin nicht so, wie ich glaube, dass ich sein müsste, um anderen zu gefallen. Oder ich bin in einer Situation zu temperamentvoll oder zu offenherzig gewesen und schäme mich später dafür.
Eine andere Form der Scham ist auf das menschliche Miteinander gerichtet und kann mit Schuldgefühlen einhergehen. Ich habe eine moralische Regel verletzt, die ich im Prinzip als notwendig anerkenne, und bedauere das.
Wer sich nicht zeigen will, beraubt sich der Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln
Es gibt auch eine Art destruktive Scham. Man grübelt lange über etwas, was man falsch gemacht hat, die eigenen Schwächen oder das eigene Aussehen.
Bennent-Vahle: Man muss unterscheiden zwischen der akuten Scham, die situationsbedingt auftritt, etwa wenn man vor einem Publikum sprechen soll und damit Probleme hat, und einer grundlegenden Disposition der Schamhaftigkeit.
Wir leben immer unter den Augen anderer und haben wenig Einfluss darauf, wie sie über uns denken; das müssen wir aushalten. Diese Scham erzeugt bei Menschen, die besonders empfindsam sind, eine Tendenz zum Rückzug. Sie wollen sich am liebsten verstecken.
Dabei ist zu bedenken, dass Scham einen starken physischen Effekt hat. Man ist vor Scham wie gelähmt, für alle sichtbar errötet. Das ist sehr unangenehm, so dass man im Boden versinken möchte.
Wer sich jedoch immer verkriecht, beraubt sich der Fähigkeit zur Weiterentwicklung. Denn dazu müsste man sich hinauswagen in die Welt und sich zeigen. Extreme Schamhaftigkeit unterbindet quasi die freie Entfaltung, und das ist sehr schade.
Es wäre gut, die eigenen Unvollkommenheiten zu akzeptieren.
Worüber man sich schämt, ist auch ein Produkt von Werten einer Gesellschaft und kulturell bedingt. In Europa war Scham lange auch Instrument einer rigiden Sexualmoral.
Bennent-Vahle: Scham hat immer einen kulturellen Kontext, die Schamanlässe variieren von Kultur zu Kultur und auch im Blick auf die Geschlechter. Das sollte man immer mitbedenken.
Lernt man sich aufkommenden Schamgefühlen zu stellen, so hat man die Chance zu einer wachen Auseinandersetzung. Man kann sich fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich an dieser Stelle zu schämen.
Möglicherweise sagt man: Okay, hier gibt die Gesellschaft mir Maßstäbe vor, die ich anerkenne. Dann wäre Scham berechtigt und man könnte damit arbeiten. Oder man denkt: Nein, ich sehe nicht ein, warum ich mich dafür schämen soll. Dann kann man sich von der Scham befreien, was einem natürlich einiges abverlangt.
Diejenigen, die gelernt haben, sich konstruktiv mit Scham in ihrem Leben auseinanderzusetzen, schämen sich immer seltener. Sie kennen sich gut und merken schnell, wenn diese Emotion aufkommt, drücken diese aber nicht weg, sondern fragen sich: Warum schäme ich mich jetzt? Was hat das mit mir zu tun? Sind die Anforderungen, die ich da an mich selber stelle, angemessen oder nicht?
Dann kann man selbst abwägen, ob die Scham in dieser Situation angebracht ist oder nicht. Oft schämen wir uns, weil wir ein ideales, übersteigertes Selbstbild haben, dem wir nicht entsprechen können. Da wäre es hilfreich, mit der eigenen Unvollkommenheit besser klarzukommen, die Erwartungen herunterzuschrauben und gelassener zu werden.
Scham hilft, Verantwortung für verletzende Taten zu übernehmen.
„Scham muss die Seiten wechseln“ sagte Gisèle Pelicot in dem unvorstellbar schlimmen Vergewaltigungssprozess 2024 von Avignon. Nicht die Frauen, die Missbrauch erlitten haben, sollten sich schämen, sondern die Täter. Wie können wir das erreichen und Opfer ermächtigen, sich zu wehren?
Bennent-Vahle: Hier ist eine Frau auf schändliche Weise vielfach missbraucht worden. Was die Scham betrifft, so gibt es zwei Aspekte: Es ist beschämend für einen Menschen, dass er so zum Opfer werden kann. Doch Pelicot überwindet diese Schamgefühle und erhebt Anklage gegen ihre Schädiger. Und nicht nur das: Sie hat auch zugestimmt, dass Filmaufnahmen der Taten im Gerichtssaal öffentlich gezeigt wurden. Sie wollte damit die Scham auf der Täterseite wachrufen.
Die Täter müssten überwältigt sein von Scham und Schuld. Sie hätten jetzt die Chance, ihr Gewissen zu entwickeln und Verantwortung für die Gewalt zu übernehmen, die sie verübt haben. Doch aus den Medien hört man, dass viele Männer sich irgendwie rechtfertigen wollen, etwa mit dem Hinweis, sie seien selbst missbraucht worden.
Wenn die Vergewaltiger selbst extreme Beschämungserfahrungen erleiden mussten, ist vorstellbar, dass ihre Empathiefähigkeit extrem minimiert ist. Wer sich selbst schützen musste, tut sich oft schwer damit, ein Gewissen zu entwickeln. Um Reue zu entwickeln, müssten die Männer sich in die Lage der Frau hineinversetzen.
Doch was ihre Skrupellosigkeit vielleicht erklären mag, kann sie keinesfalls rechtfertigten. Denn als erwachsene, mündige Personen wussten die Männer fraglos um das Unrechtmäßige ihres Handelns.
Wer andere beschämt, hat keinen konstruktiven Umgang mit Scham gelernt.
Die Scham wird auch als Machtinstrument eingesetzt – in der Politik, um Gegner bloßzustellen, aber auch in der Familie, um andere zu dominieren. Wie durchschaut man das und was kann man dagegen tun?
Bennent-Vahle: Viele Politiker haben eine starke Tendenz entwickelt, durch herabwürdigende Formulierungen ihre politischen Gegner herabzusetzen und in ihrer Würde zu verletzen.
Menschen, die andere beschämen, haben selbst keinen konstruktiven Umgang mit der Scham gelernt. Sie sind quasi in der Abwehrhaltung eingerastet. Das ist nur über langwierige therapeutische Prozesse aufzulösen.
Viele sind aggressiv gegenüber anderen, wenn ihre Scham getriggert wird. Das kann schwerwiegende Folgen für die Demokratie haben. Wenn Menschen z.B. ihre Jobs verlieren, ihre Familien nicht mehr ernähren können, dann kommt begreiflicherweise Schamgefühl auf. Und das nutzen Rechtspopulisten.
Trump zum Beispiel hat einen starken Instinkt dafür, Menschen, die sich herabgewürdigt fühlen, zu erreichen und ihnen Versprechungen zu machen, damit sie ihn wählen und sich stärker fühlen.
Im Zeitalter von Social Media geschieht es oft, dass Menschen beschämt, bloßgestellt und in ihrer Würde verletzt werden. Woher rühren diese Grenzüberschreitungen?
Bennent-Vahle: Manche Menschen fühlen sich überlegen, wenn sie andere beschämen. Sie stellen sich über andere und erleben das als Macht- und Prestigegewinn.
Je mehr man andere attackiert, umso mehr Aufmerksamkeit und Klicks bekommt man.
Wir sehen, dass sich das Schamgefühl verändert hat, auch daran, dass Menschen in der Öffentlichkeit intime Dinge von sich preisgeben. Auch hier gibt es Grenzüberschreitungen.
Bennent-Vahle: Das ist eine weitere problematische Umgangsweise mit der Scham, eine Art Flucht nach vorne. Man ist eigentlich zutiefst verunsichert und schämt sich seiner selbst. Doch man geht reaktiv in die Offensive, denn das ist eine Möglichkeit, die Scham nicht zu spüren.
Das heißt, was wir eigentlich bräuchten, wäre eine gesunde Scham?
Bennent-Vahle: Eine gesunde Scham wäre wichtig. Voraussetzung ist, dass wir dies früh im Leben lernen. Man sollte Kinder nie beschämen, sondern eher so etwas sagen wie: „Das hat jetzt nicht so gut geklappt, beim nächsten Mal kriegst du es hin.“
Das stärkt den Kern der Persönlichkeit und das Kind weiß irgendwann, dass es aus Fehlern lernen kann. So entwickelt es ein gutes Verhältnis zu sich selbst. Natürlich kann man auch später im Leben noch anfangen, mit Scham zu arbeiten, in schwierigen Fällen auch mit Hilfe von Therapie oder philosophischer Praxis. Wir können uns bis an unser Lebensende weiterentwickeln.