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Philosophische Kolumne: Mehr als ein paar Einzelne

Deutlich hat Theodor W. Adorno vor der Unverschämtheit gewarnt: Wir sagen und Ich meinen sei eine der „ausgesuchtesten Kränkungen“. Es gibt in unserer Sprache ein bei näherer Betrachtung höchst aufregendes kleines Wort – aus drei Buchstaben gebildet wie auch das Wort „Ich“, nämlich die Pluralform der ersten Person, das „Wir“. Es fristet trotz des Plurals ein Schattendasein neben dem übergroßen geschriebenen Ich.

Das Wörtchen Wir ist ein sehr eigentümliches und besonderes Wort. Vorderhand lediglich ein Personalpronomen, das für die erste Person Plural steht. Ginge es bloß um eine Zahl bzw. Anzahl, müsste die Wortbildung „Iche“ ja genügen. Offensichtlich ist aber weder eine Vielzahl aus isolierten Einzelnen gemeint, noch gar ein Kollektiv aus „Ichs“ oder „Ichen“. Gleiche sind es ohnehin nicht, selbst in den Gleichschritt gezwungen nicht.

Denn kein identitäres Wir wäre ein wirkliches Wir. Nur das personhafte Wir führt zusammen und eint Ich und Du – ohne Einschränkung für das Hinzutreten weiterer Personen. In solchem Wir wird die Differenz der Personen bewahrt. Es schließt ein aggressives „Du bist Ich“ ebenso wie ein unterwürfiges „Ich bin Du“ aus.

Es vermischt auch nicht Ich und Du zu einer Wir-Monade. Nein – recht verstanden heißt das Wir, dass man einander sagen kann: „Ich in Verbundenheit mit Dir“, gesteigert sogar: „Ich um Deinetwillen“ oder „Ich Dir zu liebe“. Deshalb ist eigentlich jedes Wir-Sagen, das nicht zuvor um eine Erlaubnis bittet, eine übergriffige Unverschämtheit und heikler noch als das ungefragte Du-sagen im Übergang vom Siezen zum Duzen.

Das Wir sei »ein gefräßiges Tier«, habe, so berichtete kürzlich die Regionalbischöfin Petra Bahr von der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ihr Predigtlehrer immer gesagt: „Es nimmt alles auf, ohne Unterschiede.“ Niemand will vom Wir des Priesters oder der Pastorin gefressen werden, auch Kirchgängerinnen und Christenmenschen nicht. Erst recht kein freiheitsliebender selbstbewusster Mensch von irgendeinem noch so wohlmeinenden Wir-Sager.

Die erste Person Plural kann eine Gemeinschaft vortäuschen, die es so gar nicht gibt. Oft genug ist das verwendete Wir bloß gut gemeint. „Wie geht’s uns denn heute?“, fragt der Arzt. Die Kluft zwischen dem, der redet, und dem, der angesprochen wird, soll auf diese Weise verringert werden.

Problematisch wird es, wenn der Wir-Sagende suggeriert, dass die Zuhörer zustimmen müssten: „Wir schaffen das!“ Die ins Wir Verfügten werden dann schlimmstenfalls zu Zwangsgesellen. Ein solches Wir verbindet nicht. Es suggeriert, dass da jemand schon weiß, was gut für alle ist, oder, schlimmer noch, dass jemand keine Ahnung hat, wie anders der Alltag und die Fragen derer aussehen, die „da draußen im Lande“ sich befinden.

Bisweilen offenbart das vereinnahmende Wir die Feigheit, einfach vom Ich zu reden. Die Beschwörung des Wir ist oft ganz und gar nicht einnehmend, sondern paternalistisch. Das tückische Wörtchen Wir fördert erhebliche Unbootmäßigkeiten. Deutlich hat Theodor W. Adorno vor der Unverschämtheit gewarnt: Wir sagen und Ich meinen sei eine der „ausgesuchtesten Kränkungen“.  (Schlimm genug allerdings auch, „Ich“ zu behaupten, und doch nur im Man verkehren…)

Besonders schlimm ist der Umstand, dass das Wir so leicht auszuschließen vermag, ja dass es dies geradezu muss: alle die, die sich in den drei Buchstaben nicht wiederfinden. Das Wir generiert ein Ihr, stellt sich anderen Wir-Gruppierungen und Pluralitäten gegenüber.

Dem Wir steht sofort ein anderes Pluralwort, ja ihm stehen zwei Pluralwörter (in unserer Sprache) gegenüber: Ihr, die Ihr die anderen seid (zweite Person Plural), und sie, die anderen, über die wir sprechen können (und immer wieder müssen), ohne zu ihnen zu reden (dritte Person Plural). Wir und Ihr – das ermöglicht noch Verhandlung.

Wir und „die da“ macht aus der Differenz von Wir/Ihr die Struktur des Freund-Feind-Duals. Auch das Ihr kann verfeinden: Wir Staatsbürger – Ihr Ausländer. Im Unterschied zur Rede über Dritte liegt im Dual Wir/Ihr jedoch immer noch der Trost, dass man bezogen ist, auch wenn die Gegnerschaft schon zur Feindschaft gediehen ist. Wieviel mehr Anerkennung schwingt noch mit beim „liebenden Kampf“ (Karl Jaspers) mit Euch, mit euch Anderen?!

Selbst wo von Liebe keine Spur mehr sein sollte: Martin Buber konnte aus guten Gründen sagen, dass Hass nichts anderes sei als „irrende Liebe“. Fürs Lieben wie fürs Hassen besteht eine gemeinsame grundlegende Bezogenheit. Warum sollten die Vorzeichen nicht einmal wieder vertauscht werden können?

Liebe muss nicht immer nur in Hass umschlagen. In allem Hassen kann eine verborgene Voraussetzung, nämlich dass erst geliebt haben muss, wer hasst, auch wieder zum Leuchten kommen. Thymotische Energien sind so wertvoll wie die erotischen. Und ist Hass nicht nur eine Lagerform des guten Zorns? (Zorn ist nach Sloterdjik Ausdruck von Selbstachtung und Bewusstsein der Würde).

Jedenfalls liegt in jedem Streiten noch irgendeine Weise der Wahrnehmung des oder der anderen. Die Wirklichkeit des Gegenübers steht nicht in Frage, denn welchen Grund könnte eine Auseinandersetzung sonst haben?! Erst dann ist wohl alles verloren, wenn die Missachtung so weit geht, dass die Vergegenständlichung der anderen so vollkommen durchgeführt worden ist, dass niemand mehr adressiert wird und ausschließlich ein es-haftes „Die da“ übrigbleibt.

Kann man aber so verhärtet sein, dass man ungeteilten Herzens vollkommen zu verachten vermag? Und ist es nicht wie beim Ich: kein personales Ich ohne Du. Kein personhaftes Wir ohne Euch. Von der Welt des Es ist hier nicht mehr zu reden.

»Wir müssen, wir sollen, wir können …« Regionalbischöfin Petra Bahr meinte dazu: „Die ostentative Anhäufung des Personalpronomens erstickt die Freiheit der Hörer und Hörerinnen. Dabei ist, wie ich finde, gegen das Wir im Gottesdienst an geeigneter Stelle gar nichts einzuwenden, wenn es konkret wird. Eine Gemeinde, ein Dorf, eine Familie sind nun mal etwas anderes als eine Aneinanderreihung von Ichs, die in gehörigem Abstand in Kirchenbänken sitzen.

Nur muss das auch deutlich werden. Das Wir, das Christen in der ganzen Welt im Vaterunser sprechen, weist auf eine denkbar große Gemeinschaft. Dieses Wir ist wahrhaft inklusiv und umfasst – das ist seine Intention – alle Unterschiede, Erfahrungen, Geschlechter, Lebensgeschichten, aber ohne dass diese Unterschiede wegkaschiert werden.“

Nun ist allerdings das christliche Wir, hineingenommen in die Trinität, das metaphysisch am stärksten aufgeladene Wir, sichtbar in Bildern wie dem vom Leib Christi, der einen Kirche. Hier geht die säkulare Subjektivität kaum mehr mit.

Doch so intensiv muss die Einheit ja gar nicht ausgebildet sein, wo von einem sozialen Körper die Rede ist. Allein dies wäre festzuhalten. Es gibt, wo Menschen leben, von Anbeginn soziale Körper, und sie können Pathologien aufweisen, erkrankt sein oder auch gesunden. Und das zeigt sich für mich auch an der Art und Weise, wie das Wir ausbuchstabiert wird, in dem sich die Glieder wiederfinden.

Dafür Anregungen zu geben, Impulse zu setzen, Vorschläge zu unterbreiten – das ist für mich ein Gebot der Stunde. Nicht im billigen Spiel um Sicherheit und Freiheit, nicht zulasten der Freiheit, sondern im Interesse der Freiheit. Damit sie Gehalt findet in der Verantwortung – und gelebt: in der Solidarität. Und auch um der schlichten Wahrheit die Ehre zu geben: Selbstsein bleibt ein unfreies Abstraktum, wenn es nicht verwirklicht wird im bejahenden, friedliebenden, freiheitlichen Mit-sein.

Es gibt Gefährdungen, die ein Zusammenrücken all derer verlangen, die diese Gefahren angemessen meistern und die Versuchung zur Resignation überwinden wollen. Nur gemeinsam kann es gelingen.

Ich wünschte mir eine Art Solidarität aller in einem „Reich der Freiheit“, das Hegel sich in einer Interpretation des Reich-Gottes-Gedankens vorgestellt hat. Sitzen wir menschheitlich denn nicht alle im selben Boot? Allerdings: auch wenn wir alle in einem Boot sitzen, dann doch hoffentlich nicht alle auf derselben, also meiner oder Ihrer Seite.

Es lebe die Differenz! Solidarität ist sowohl ein Seins- wie auch ein Sollensbegriff. Solidarität lässt sich nicht erzwingen gegen die Freiheit der Einzelnen. Aber es lässt sich aufweisen, dass es de facto eine letzte Verbundenheit gibt („Menschheit“) und dass daraus eine Verantwortung, ja eine Verpflichtung folgt.

Thomas Gutknecht, 31. März 2020

Thomas Gutknecht lehrt und lernt nach Studium der Philosophie, Katholische Theologie, Germanistik unter anderem als Dozent am Kolping-Bildungszentrum Stuttgart, zudem an verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. 1991 des des Logos-Instituts für Philosophische Praxis und freiberuflich tätig. Er war bis 2015 Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis. www.praxis-logos.de

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