Eine anthropologische Perspektive
Der Anthropologe James Suzman untersucht in seinem Buch die Geschichte der Arbeit – von den Anfängen bis heute. Mit erstaunlichen Einsichten: Erst seit rund 10.000 Jahren steht Arbeit im Zentrum menschlichen Lebens. Im größten Teil der Menschheitsgeschichte reichten ein paar Wochenstunden, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Text: Birgit Stratmann
Leistung bringen, Aufgabenlisten abarbeiten, effizient sein – so sieht der Arbeitsalltag für viele Menschen heute aus. Doch ist das normal? Muss das so sein? Der Sozialanthropologe James Sulzman untersucht in seinem breit angelegten Werk, wie Menschen gearbeitet haben – von den Anfängen menschlichen Lebens bis heute.
Sulzman nimmt uns mit auf eine atemberaubende Reise, die im Steinzeitalter beginnt, also vor rund 2,6 Millionen Jahren: Die Jäger und Sammler schoben demzufolge eine ruhige Kugel, arbeiteten nicht mehr als ca. 15 Stunden pro Woche, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Besondere aus Sicht des Autors: Sie setzten primär auf Kooperation. Viele lebten zumeist in kleineren, egalitären Gemeinschaften, hatten wenig Besitz, waren somit aufeinander angewiesen. Wenn etwas fehlte, hatte es vielleicht jemand anders, so dass man tauschen konnte.
Manchmal gab es Phasen von Knappheit. Aber, wie Sulzman schreibt, besaßen die Menschen die große Fähigkeit, Entbehrungen auf sich zu nehmen. Daher mussten sie nicht ihr Leben damit zubringen, etwas anzusammeln und mehr zu arbeiten, als für den täglichen Bedarf nötig war. Sie vertrauten „auf die Freigebigkeit ihrer Umwelt“. Zumindest scheint dies auf die Gemeinschaften zuzutreffen, die die Autor untersucht hat.
Doch vor rund 10.000 Jahren, mit Ackerbau und Landwirtschaft sei es mit dem ruhigen Leben vorbei gewesen. Die Menschen beackerten Land und produzierten mehr, als sie brauchten. Mit dem Ackerbau entstanden Besitz und Lagerhaltung. Erste Siedlungen entstanden und damit die Notwendigkeit, das Zusammenleben zu organisieren, Verwaltungen aufzubauen usw..
Unser Lebensmodell ist eine neue Entwicklung
Die Überschüsse, die die Bauern produzierten, ermöglichten die Urbanisierung und die Versorgung von Menschen, die selbst keine Lebensmittel herstellten. Selbst die Industrialisierung soll laut des Anthropologen eine Folge der Wende hin zur Sesshaftigkeit gewesen sein.
Es sind große Sprünge, die der Autor macht – bis er in der heutigen Zeit landet: der Wachstums- und Überflussgesellschaft, in der Arbeit und Besitz die Triebkräfte des Lebens bilden und Menschen suggeriert wird, dass mehr haben und konsumieren besser sei.
Natürlich ist es gewagt, so einen Streifzug durch die Geschichte zu unternehmen. Denn unweigerlich muss man ungenau sein, verallgemeinern und Wichtiges auslassen. Auch besteht die Gefahr, sich vor allem die historischen Quellen zu stützen, die die eigene These bestätigen.
Darüber, wie kooperativ die Jäger- und Sammler-Gemeinschaften waren, gibt es in der Forschung durchaus unterschiedliche Ansichten. Trotz dieser Unwägbarkeiten ermöglicht der große Blick, anders auf uns heute zu schauen.
Und das möchte Sulzman erreichen: zeigen, dass unser Lebensmodell keineswegs naturgegeben ist und Anregungen geben, den eigenen Lebensstil zu überdenken. Wenn Menschen in früheren Zeiten anders lebten, können wir es auch.
Natürlich geht das nicht mit einer Rolle rückwärts in die Vergangenheit und indem man die Geschichte verklärt, sondern indem die Menschheit sich weiterentwickelt – in dem Wissen: Die Zukunft ist offen. Es sind andere Wege vorstellbar, gut zu leben und gleichzeitig weniger oder anders zu arbeiten.
Es hätte nicht nur Auswirkungen auf uns, unsere Beziehungen und Familien, wenn wir weniger von Arbeit bestimmt wären. Ein solcher Lebensstil würde sich auf den ganzen Planeten auswirken. Denn wer weniger tut und konsumiert, trägt weniger zu Ressourcenverschwendung, Klimakrise und Müllansammlung bei. Und hat mehr Zeit, darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die wirklich lebenswert ist.