Interview mit der Psychotherapeutin Susanne Kersig
Wer sich überfordert fühlt, reagiert schnell mit Wut und Aggression. “Wichtig ist, nicht andere für unsere Wut verantwortlich zu machen,“ sagt die Therapeutin Susanne Kersig. Wir sollten die Wut willkommen heißen, achtsam schauen, welches Bedürfnis dahinter steht, und dies dann konstruktiv ausdrücken. So schützen wir uns und andere vor der destruktiven Kraft der Wut.
Das Gespräch führte Birgit Stratmann
Frage: In unserer Zeit scheint Wut um sich zu greifen – alle regen sich auf: über die Nachbarn, die Politik, die Medien. Ist Wut auch ein gesellschaftliches Phänomen?
Kersig: Ja, unbedingt. Viele von uns fühlen sich angesichts der Krisen und rasanten gesellschaftlichen Veränderungen überfordert, verängstigt und ohnmächtig. Diese Gefühle gestehen wir uns allerdings oft nicht ein.
Wut und Empörung verleihen uns dann das trügerische Gefühl, wieder Kontrolle zu haben. Dazu kommen die sozialen Medien: Empörung und Hasskommentare erzeugen Aufmerksamkeit – das verstärkt die Dynamik. Darum sind ein bewusster und kritischer Umgang mit Social Media sowie analoge Austauschräume, in denen wir uns wirklich zuhören und unsere Sorgen teilen, heute wichtiger denn je.
Wir sprechen von Ärger, Wut, Aggression, Groll, Nachtragen, Verbitterung. Was unterscheidet diese Begriffe?
Kersig: Es gibt eine Art Skala. Zunächst empfinden wir Aversion oder Widerstand – etwa wenn der Bus uns vor der Nase wegfährt. Ärger ist die nächste Stufe: Wir spüren Energie und körperliche Anspannung, etwa Druck im Bauch oder im Kiefer. Wut ist intensiver – hier steigt das Energielevel so stark, dass wir impulsiv reagieren möchten.
Groll ist festgehaltener Ärger – wir wiederholen innerlich, was uns verletzt hat, sprechen es aber nicht aus.
Verbitterung entsteht, wenn wir uns in einem wichtigen Punkt zutiefst ungerecht behandelt fühlen und monatelang an dieser Wut festhalten. Es gibt dafür sogar eine Diagnose: die „Posttraumatische Verbitterungsstörung“, die wir in der Psychotherapie recht häufig sehen.
Es braucht Achtsamkeit, um Wut zu bejahen.
Wut und Aggression gehören zum Menschsein. Wozu brauchen wir sie?
Kersig: Wut zeigt, dass ein Bedürfnis verletzt wurde – etwa nach Respekt, Gerechtigkeit oder Sicherheit. Sie stellt uns Energie zur Verfügung, um für dieses Bedürfnis einzustehen. Biologisch aktiviert sie den Sympathikus, schüttet Adrenalin aus und macht uns handlungsbereit.
Heute fehlt jedoch oft die körperliche Entladung: Wir kämpfen oder fliehen nicht, sondern sitzen die Spannung aus – das kann zu Bluthochdruck, Schlafstörungen oder chronischer Anspannung führen.
Wut hat einen Anteil Klarheit, aber sie kann auch destruktiv sein, wenn wir sie ungehemmt nach außen agieren. Wie findet man eine Balance – zwischen Verdrängen und blindem Ausagieren?
Kersig: Eigentlich sollten Eltern Kindern beibringen, diese Urkraft willkommen zu heißen und zugleich zu begrenzen: „Ich freue mich, dass du weißt, was du willst – und ich helfe dir, mit dieser Kraft weder Dir noch anderen zu schaden.“
Da viele das nicht gelernt haben, müssen wir es als Erwachsene nachholen. Es braucht Achtsamkeit, um Wut zu bejahen.
Wie hilft Achtsamkeit dabei?
Kersig: Achtsamkeit ist zentral. Wenn wir wütend werden, sollten wir zuerst innehalten, nicht dem ersten Impuls folgen. Es hilft, kurz die Situation zu verlassen, tief zu atmen und die Ausatmung zu verlängern, um das Nervensystem zu beruhigen.
Dann können wir sagen: „Etwas in mir ist wütend“, statt „Ich bin wütend“. So entsteht Abstand. Wir fragen: „Wo spüre ich diesen Teil von mir im Körper? Kann ich ihn einfach dasein lassen, ohne ihn verändern zu wollen oder weiter zu füttern?“ Gefühle sind vergänglich, wenn wir sie wirklich fühlen. Widerstand hält sie dagegen aufrecht.
Es ist hilfreich, alten Verletzungen nachzuspüren.
Was verbirgt sich hinter der Wut?
Kersig: Das ist vielleicht die wichtigste Frage überhaupt, die wir uns selbst stellen sollten. Oft sind es Gefühle von Verletzung, Ohnmacht oder übergangen zu werden.
Wut ist ja nicht so beliebt.
Kersig: Ja, viele halten sich für schlechte Menschen, wenn sie wütend werden. Sie wurden dazu erzogen, brav zu sein. Aber Wut ist eine neutrale Kraft – sie kann, wenn bewusst gefühlt, zu Klarheit und Präsenz führen.
Wiederkehrende Ärger-Situationen sind oft Signale alter Verletzungen. Dann können wir uns fragen, welche Kindheitserinnerung wird getriggert? Oft ist es unser inneres Kind, das sich nicht gesehen, übergangen oder nicht respektiert fühlt. Wenn wir diesen Teil von uns mitfühlend wahrnehmen, entspannt sich etwas in uns.
Es hilft auch sehr, die Unachtsamkeit anderer nicht so persönlich zu nehmen– ihre Reaktionen haben meist mit ihrer eigenen Geschichte zu tun, nicht mit uns. Wenn wir die Wut aus moralischen Gründen immer wieder unterdrücken, kann sie zu Schuldgefühlen, Schlafstörungen und Depressionen führen.
Unser YouTube-Kanal
Wir haben angefangen, unseren youtube-Kanal auszubauen. Denn unsere kostbaren Inhalte sind es wert, auch in anderen Formaten Menschen zu inspirieren.
Wir können Wut in Mitgefühl verwandeln.
Wenn wir Missstände wie die Klimakrise überwinden wollen, brauchen wir doch auch Wut, oder?
Kersig: Am Anfang kann das hilfreich sein – sie zeigt uns, dass Bedürfnisse verletzt sind, etwa der Wunsch nach einer intakten Umwelt, und liefert die Energie, uns zu engagieren.
Doch langfristig ist Mitgefühl die heilsamere und nachhaltigere Motivation: Aus Mitgefühl mit unserer Umwelt, Nachwelt und mit der Natur wollen wir handeln.
Häufig wird Wut gegen andere gerichtet. Rechtspopulisten nutzen die Wut aus, um Menschen zu manipulieren.
Kersig: Wichtig ist, nicht andere für unsere Wut verantwortlich zu machen. Wenn wir Verantwortung für unsere Wut übernehmen, anstatt sie auf andere zu projizieren, öffnen wir den Raum für Verständigung und Gespräch.
Im Zustand der Wut verengt sich der Geist – wir sehen nur Schuldige. Aber der Auslöser für die Wut ist nicht das gleiche wie die Ursache. Es ist unsere Reaktion auf die äußere Situation, die starke Emotionen und Leiden erzeugt, es ist unsere Interpretation,
Das Leben wird immer Unangenehmes bereithalten. Achtsamkeit hilft uns, dieses Unvermeidliche Leiden im Leben mit Mitgefühl und Gelassenheit zu beantworten statt mit Abwehr.
Tipp:
Hilfreich im Umgang mit Emotionen ist die RAIN-Meditation von Tara Brach: Recognize, Accept, Investigate, Nourish. Zuerst das Gefühl erkennen (recognize), mit Mitgefühl annehmen (accept), dann weiter erforschen, was dahinter liegt (investigate) und dem Teil von mir geben, was er braucht (nourish). Susanne Kersig hat die Mediation ins Deutsche übersetzt, verfügbar auf Insight Timer.

Susanne Kersig ist Psychologische Psychotherapeutin und Ausbilderin in der Selbsthilfemethode Focusing beim Deutschen Ausbilderforum (DAF). Sie gehört zu den Pionierinnen der MBSR-Bewegung in Deutschland. Autorin u. a. von „Im Dialog mit dem Körper – Mit Focusing und Achtsamkeit die Selbstheilungskräfte aktivieren“ (Arbor Verlag 2021). Sie engagiert sich politisch für den Klimaschutz. www.achtsamkeit.info
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