Ein Interview mit der Zen-Lehrerin Doris Harder
Weisheit bedeutet im Buddhismus, das Leben tiefer zu verstehen. Zen-Lehrerin Doris Harder spricht im Interview über den Weg des Zen, das Sitzen in Stille und Offenheit und warum Leiden eigentlich ein Missverständnis ist, das durch Weisheit geklärt wird.
Das Gespräch führte Mike Kauschke
Was ist für Sie Weisheit?
Harder: Weisheit bedeutet aus buddhistischer Sicht, die Lebensgesetzmäßigkeiten zu verstehen und danach zu leben: Es gibt Leiden, man kann sich davon befreien. Alles ist in Bewegung und vergänglich. Alles steht miteinander in Verbindung.
Was sind die inneren Haltungen oder die Qualitäten, die Sie als weise bezeichnen würden?
Harder: Für mich steht ganz obenan das Denken. Die Weisheit, unsere eigenen Gedanken zu kennen, sie im Moment zu bemerken und wieder zurückzukommen zum Achtfachen Pfad, der im Buddhismus das Wesen der Weisheit auffächert.
Am Beginn des Achtfachen Pfades steht das rechte Denken. Man könnte annehmen, dass in einer spirituellen Lehre die Liebe zuerst genannt wird. Im Buddhismus beginnt es mit der Absicht, das eigene Denken zu kultivieren, um heilsame Gedanken zu stärken und daraus auch heilsames Sprechen und Handeln. Das bedeutet, dass wir bemerken, wenn unser Denken gerade von unserer eigentlichen guten Absicht abrutscht. Wir können dann zurückkommen zur eigentlichen Absicht, aus der wir leben wollen.
Wie können wir diese Absicht ausbilden?
Harder: Die rechte Erkenntnis als erster Weisheits-Aspekt auf dem Achtfachen Pfad beinhaltet ein intellektuelles Verstehen. Die rechte Absicht als zweiter Aspekt geht tiefer und bildet so etwas wie einen Anker. Wir können dann bemerken, wenn wir nicht in Übereinstimmung mit unserer eigentlichen Absicht leben.
Ich kann in einem Gedankenkarussell gefangen sein und mich in eine Depression hineindenken. Oder ich beurteile gerade meine Freundin – will ich das? Wir können in jeder Sekunde wieder neu beginnen.
Je mehr wir von uns selbst wissen, um so mehr verstehen wir andere.
Wie hängt diese Dynamik, das Denken zu erkennen und zu korrigieren, mit der Meditation zusammen, die gerade im Zen-Buddhismus zentral ist?
Harder: Die Meditation steht am Ende des Achtfachen Pfades. Es beginnt mit Erkenntnis und Denken und führt dann zur Praxis. Das finde ich sehr interessant, denn man könnte den ganzen Weg auch umdrehen und mit Meditation beginnen.
So würden wir linear denken: Ich meditiere, ich mache meine Übungen, um weise und liebevoller zu werden. Interessant ist, dass im Achtfachen Pfad davon ausgegangen wird, dass der rechte Blick auf die Welt – also Weisheit – das Wichtigste ist.
Tatsächlich spielen alle Punkte des Achtfachen Pfades ineinander. Meditation bedeutet, dass wir bei uns anfangen, weise und liebevoll in der Welt zu sein. Das hat viel mit Selbsterkenntnis zu tun. Je mehr wir um uns selber wissen, desto mehr verstehen wir die anderen. Wir alle kennen Groll, Gier, Leiden. Je mehr wir uns selbst erkennen, sehen wir es auch bei anderen und können Mitgefühl entwickeln.
Meditation hat für mich den Stellenwert der Selbsterkenntnis, still auf dem Kissen sitzen, bei sich bleiben, in Ruhestellung mit der Welt in Kontakt sein. In der Stille kann man besser auf sich hören, man ist nicht so abgelenkt und nicht so gefordert zu reagieren. Wir üben in der Stille, um dann, wenn wir gefordert werden, darauf zurückgreifen zu können und auf die Welt zu antworten.
Loslassen, in Weite und Offenheit sitzen.
Sie haben den Achtfachen Pfad angesprochen und das erst am Ende die Meditation steht. Sind die anderen Glieder des Achtfachen Pfades auch auf die Weisheit bezogen?
Harder: Ja, man kann alle Punkte unter dem Aspekt der Weisheit und des Mitgefühls betrachten. Das sind die beiden Säulen im Buddhismus. Es gibt kein Mitgefühl ohne Weisheit und keine Weisheit ohne Mitgefühl.
Die ethischen Aspekte befinden sich in der Mitte des Achtfachen Pfades – rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb. Damit kann ich mein Leben reflektieren und fragen: Ist das die beste Art, weise und mitfühlend zu leben, zu reden, zu handeln, Lebenserwerb zu betreiben? So durch die Welt zu gehen würde bedeuten, weise durch die Welt zu gehen.
Gerade im Zen gibt es einen Fokus auf die Erfahrung der Erleuchtung. Welche Bedeutung haben solche transformativen Erfahrungen bei der Kultivierung von Weisheit?
Harder: Da gibt es große Unterschiede in den Traditionen. Im Rinzai-Zen wird viel Wert darauf gelegt, erste Erleuchtungserlebnisse zu haben. Man zeigt den Leuten, dass es sich lohnt, die Praxis weiterzuführen.
Meine Tradition ist das Soto-Zen, wo wir eher in Versunkenheit in Stille sitzen und diese Erfahrung gerade nicht suchen. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Loslassen, in Weite und Offenheit zu sitzen. Ich vertraue, dass in diesem Sein und Sitzen viel passiert, was unbewusst ist. Was wir tagsüber mit anderen erlebt haben, was aus unserer Vergangenheit kommt, wird verarbeitet. Die Erfahrung der Öffnung ist eine Art von Transformation.
Viel wichtiger als Gipfel-Erfahrungen ist für mich, dass Menschen sich verändern, dass sie weicher werden, dass sie nicht schon wissen, sondern bereit sind für neue Optionen.
Wir können Frieden damit schließen, dass es Leiden gibt.
Sie sind Zen-Nonne und arbeiten gleichzeitig als Theaterregisseurin. Wie zeigt sich mit dieser Erfahrung im Kloster für Sie Weisheit im Zusammenleben, in Beziehungen?
Harder: Als Regisseurin gibt es immer mindestens zwei Ebenen. Was braucht die Gruppe oder die jeweilige Schauspielerin, um sich zu entwickeln? Braucht sie Raum oder mehr Anleitung? Gleichzeitig muss ich das große Bild im Blick haben. Das Stück muss zu Ende inszeniert werden und hat an einem bestimmten Tag Premiere.
Weisheit ist das angemessene Handeln jetzt, also zu wissen, was der Moment von mir braucht. Es ist eine bestimmte Art, zu arbeiten und zu sein, die den Raum gibt, Fehler zu machen. Ich habe eine Idee, die Schauspieler haben eine Idee und oft wird daraus etwas Drittes.
Welche Relevanz hat Weisheit in unserer Zeit?
Harder: Ohne eng klingen zu wollen, ich finde, dass wir mehr von der Weisheit vertragen könnten, wie sie im Buddhismus gedacht ist. Weisheit ist im Buddhismus rückgekoppelt an Ethik, Mitgefühl, eine Gemeinschaft, andere Menschen, damit man sich alleine nicht verrennt und in anderen ein Korrektiv hat.
Mir persönlich geben diese Lehren eine innere Ruhe, wenn ich auf die Welt schaue. Es werden darin Lebensgesetzmäßigkeiten formuliert. Es bedeutet etwa, zu akzeptieren, dass es Krieg und Frieden gibt. Es wird immer Krieg, Epidemien, Streit geben, so wie es Tod gibt. Und trotzdem tun wir, was wir können, um die Welt schöner zu machen, um in Frieden zu leben, Kriege zu beenden, uns um unsere Mitmenschen zu kümmern.
Alles ist in Bewegung. Alles ist vergänglich. Alles hängt miteinander zusammen. Wenn wir uns diese Lebensgesetzmäßigkeiten ganz zu eigen machen, erwarten wir nicht, dass alles so bleibt, wie es ist. Wir können Frieden damit schließen, dass es Vergänglichkeit und Leiden gibt. Denn es gibt auch ein Ende des Leidens.
Die Auflösung des Leidens ist Weisheit.
Wie würden Sie das Ende des Leidens ansprechen?
Harder: Das Ende des Leidens ist eigentlich das Verstehen, eine Erkenntnis. Ich bin zwar traurig, wenn ich Kriegsbilder sehe, Nachrichten lese und höre, was Menschen einander antun. Dann bemerke ich in meinen Gedanken, dass ich das denke, und gehe in ein Nichtwissen.
Ich wende mich dem zu, was ich an Schönem und Gutem tun kann, um mich nicht zu verlieren in diesem Denken über Krieg. Genauso wie Kriege geführt werden, gibt es zur selben Zeit ganz viel Schönes und Gutes. Ich gehe in die Mitte und weiß, dass es immer beides geben wird.
Das ist für mich persönlich die Lösung des Leidens. Ich leide dann nicht mehr. Ich bin betroffen, ich habe Mitgefühl, aber ich leide nicht so, dass ich in eine Depression falle.
Leiden ist eigentlich ein Missverständnis. Wenn wir die Lebensgesetzmäßigkeiten nicht verstehen, dann leiden wir darunter, dass jemand stirbt oder krank ist. Die Auflösung des Leidens wäre eigentlich Erkenntnis, also Weisheit.
MyoE Doris Harder ist ordinierte Zen Priesterin in den Linien von Kobun Otogawa Roshi und Shunryu Suzuki Roshi. Sie begann mit Zen 1992 am Puregg / Salzburger Land und absolvierte das Priest Training am San Francisco Zen Center (von 2002 -2009 und von 2015 -2018). In Wien lebend arbeitet sie als Theaterregisseurin und unterrichtet Zen mit den Schwerpunkten Zazen (Meditation), Liebe und Mitgefühl, Kreativität, Arbeit mit Gefühlen, Achtsamkeit, das Denken, Mystik. Ihr Anliegen ist es, die verschiedenen spirituellen Wege, Philosophie, Wissenschaft und Kunst für heutige Menschen zugänglich, hilfreich und humorvoll zu vermitteln.