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Wohl dem Land, das keine Helden braucht

Foto: privat
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Philosophische Kolumne: Ukraine-Krieg

Am Ende seines Dramas Leben des Galilei lässt Bertolt Brecht den Studenten Andrea Sarti sagen: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“ Die berühmt gewordene Antwort Galileo Galileis folgt auf dem Fuß: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Es ist der 6. Tag nach dem Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine.

Längst leben wir in einer vielfach verflochtenen, vernetzten, verstrickten einen Welt. Da geht es nicht mehr nur um Länder, Nationen und Grenzen, es sei denn, dass man sich auf eine völkerrechtliche oder geopolitische Perspektive beschränkt. Vielleicht ist einer der größten Unterschiede zwischen Putin und Selenskyj, dass der eine den Globus im Blick hat, der andere Menschen, für die er Verantwortung trägt. Beruf und Umfeld mögen gewählt sein oder einfach prägen, beides wohl – und einiges mehr kommt dazu.

Es gibt Gemeinsamkeiten äußerlicher Art. Beide Protagonisten absolvierten ein Jurastudium. Doch lassen wir es bei dem Unterschied, der am schärfsten ins Auge springt: Putin, der KGB-Offizier bis 1990 – wegen Personalüberkapazitäten beim Leningrader KGB im Rang eines Offiziers der Reserve dann Assistent des Rektors für internationale Fragen an der dortigen Hochschule.

Selenskyj, der Künstler, Kabarettist, Schauspieler. Fürs Fiktionale zuständig, und doch ein Mensch mit Bodenhaftung. Der hartgesottene „Realpolitiker“ (welcher Hohn auf das Wort Realität) hingegen einer, der heute Fiktionales für wahr verkauft und sich in die „Faktionalität“ des 19. Jahrhunderts einspinnt.

Putin will der Held sein, der russische Geschichte schreibt; ein Mann mit der Ansicht des Studenten Andrea Sarti. Russlands Unglück seien die Antihelden Gorbatschow und Jelzin gewesen. Selenskyjs Art, Tapferkeit zu demonstrieren, ist gepaart mit einem Gefühl für die Würde. Der Würdebegriff hat für mich dieser Tage eine weitere Farbe auf der bunten Palette hinzugewonnen: Verzicht auf Mitfahrgelegenheiten, wie sie die USA angeboten haben sollen.

Ein Land ist ins Unglück gestürzt worden und hat nun Helden nötig. Was ist das Kennmal des Helden? Er steht ein für eine Sache, die größer ist als er selbst. Selenskyj steht dafür, und nicht nur in seinem Land. Für ihn und seine Landsleute geht es um mehr als um das nackte Überleben. Das auch, denn das bloße Leben ist die Voraussetzung für jede Art zu leben.

Aber menschliches Leben ist mehr. Es geht um ein gutes Leben, ein selbstbestimmtes Leben. Und damit sollte klar sein: Selenskyj ist nicht der Held für die Ukrainer nur. Er lässt gerade in seiner Standhaftigkeit erkennen, worin das Unglück besteht – über die verwundete Ukraine hinaus ist. Es ist das Unglück einer Welt, in der das Böse und die nackte Gewalt obsiegen können, wenn Gegenmächte fehlen.

Simone Weil hat dazu aufgefordert zu bemerken, zu sehen oder zumindest zu ahnen, dass das Unglück gewissermaßen das Wesen der Schöpfung ausmacht. „Ein Geschöpf sein heißt nicht, notwendigerweise unglücklich sein, heißt aber, notwendigerweise dem Unglück ausgesetzt sein. Nur Unerschaffenes ist auch unzerstörbar.“

Unglück ist etwas anderes als Leiden, als Schmerz, als seelisches Leid, so schlimm diese auch sein mögen. Das große Rätsel des menschlichen Lebens ist nicht das Leiden, sondern das Unglück. Unglück bedeutet die Versklavung und Aussichtslosigkeit, die Verstümmelung des menschlichen Wesens.

Scharfsichtig sagt Weil: „Soweit man über die Sensibilität Vermutungen anstellen kann, hat es den Anschein, als ob das Böse, das in einem Menschen ist, ihn abschirme gegen das Böse, das ihn in Gestalt des Schmerzes von außen anfällt.“ Um Leid und Schmerz abzuwehren, besteht das verführerische Mittel darin, sich mit den Mitteln der Bösartigkeit zu bewehren, sich stark zu machen in der Aggression und unter den Verzerrungen der Ressentimentalität die anderen zu verteufeln. 

Die Tapferkeit des wahren Helden besteht darin, sich auf diese Mechanik nicht einzulassen. Und die Not, die ein solcher Held aufdeckt, ist eben auch, zu lange hierzulande verdrängt, die je eigene Not.

Im Glasperlenspiel heißt es in den Worten von Hermann Hesse: „… denn sie standen dem Tode, der Angst, dem Schmerz, dem Hunger beinahe schutzlos gegenüber, von den Kirchen nicht mehr tröstbar, vom Geiste unberaten. Sie, die so viele Aufsätze lasen und Vorträge hörten, sie gönnten sich die Zeit und Mühe nicht, sich gegen die Furcht stark zu machen, die Angst vor dem Tode in sich zu bekämpfen…“

Die für uns glücklicherweise friedlichen Jahre waren schon in der unmittelbaren Nachbarschaft, geschweige denn in mundaner Hinsicht, so friedlich nie. Viele wollten nicht sehen und nicht verstehen. Man ist nicht vorbereitet worden. Die Schulen geben auf den Lebensweg keine Bildung mit, von der man ernstlich sagen kann, dass es eine wäre, die, wie Bonhoeffer es wünschte, „in Gefahr nicht versagt“.

Die ganze Welt, nicht nur irgendein Land, braucht Helden. Einen Helden wie Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, der Mitfahrgelegenheiten lachhaft findet, einen Bürgermeister, der im Boxsport das Fair Play und Standfestigkeit erlernt hat, der 5000 Helme lächerlich nennt und mit Sarkasmus (oder ukrainischem Humor) fragt, ob denn nun als nächstes noch Kopfkissen geliefert würden.

Mit einer Mischung aus echter Bewunderung (soweit man zur Anerkenntnis und Achtung noch fähig ist) und einer gewissen Scham wegen jahrelanger und aktueller Versäumnisse feiert man in Person des Botschafters die großen und auch die vielen unbekannten Helden unter der blau-gelben Flagge.

Es sollte klar sein: Auch in der Demokratie haben wir sie dringend nötig, die mutigen Menschen über Zivilcourage hinaus. Auch die „freie“ Welt hat Selbstlosigkeit nötig. Die ganze Welt hat sie nötig. Das ist offenkundig geworden. Wer sagt, wir seien heute „in einer anderen Welt aufgewacht“, offenbart unfreiwillig ein grobes Missverständnis.

Nein, wir sind schmerzlich aufgewacht in einer Welt, die immer schon die ist, die sie ist. Eine Welt, die eine unglückliche, ja vom Unglück „ausgezeichnete“ ist, auch weil sie offensichtlich Helden braucht. Solange jedenfalls, bis die Güte mächtiger geworden sein wird als die Kräfte der Gewalttätigkeit; bis das eigentliche Unglück in Solidarität überwunden worden sein wird.

Doch zunächst: Schauplätze der Auseinandersetzung sind nicht nur Kiew oder Charkiw. Der Schauplatz des Ringens um eine menschliche Zukunft liegt in jedem von uns. Lehnen wir uns an an die vermeintliche Stärke, die Unverwundbarkeit verspricht, oder vertrauen wir der Möglichkeit, die an sich sinn-lose und zweck-freie Welt mit Menschlichkeit auszustatten, auf die Absurdität eine Antwort zu geben wie einst Albert Camus? Das Absurde, stellt er klar, kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen. Wieviel unausweichlicher tut es dies im sinnlosen Krieg?!

Menschliches Streben nach Sinn in einer sinnleeren Welt ist jedoch nicht vergeblich und bar jeder Hoffnung. Es ist die Größe des Menschen, der Held sein kann oder Verbrecher, zu entscheiden, was er nähren will: ein selbstbestimmtes Bewusstsein steter Möglichkeiten der Schicksalsüberwindung, der Auflehnung, des Widerspruchs und der inneren Revolte oder feige Bequemlichkeit oder gar den angstgetriebenen Rückgriff auf Gewalttätigkeit.

Der Friede braucht Helden. Und gerade auch die Demokratien. Großartige Helden wie Selenskyj und Alltagshelden wie uns, denen erneut eine Lektion erteilt wird. Unentschieden bleiben ist keine Option mehr. Sehen und sagen, was ist, tut Not. Und Solidarität mit denen, die nicht weglaufen, weil es um mehr geht als um sie selbst – sogar auch um uns!

Thomas Gutknecht, 3. März 2022

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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