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Von der glückvollen Schwere des Himmels

Jo Magrean
Jo Magrean

Philosophische Kolumne: Über die Melancholie

Heute liegen die Wolken schwer auf den Wiesen und Äckern um mich herum. Doch so kurz vor Weihnachten sehe ich dem Himmel seinen Zustand gerne nach. Es fühlt sich für mich wie ein solidarischer Wink von oben an, denn in dieser Zeit des Jahres habe auch ich die starke Neigung, mich hängen zu lassen. Das weihnachtswütige Agieren der Menschen, ihr entfesselter Dekodrang, Christi Geburt im Eventmodus, halbbekleidete Nikoläusinnen in der polizeilich abgeschirmten Weihnachtsmarktzone – dies allein ermüdet mich schon sehr. Hinzu kommen letzte Erledigungspflichten für 2017 – eine Abrechnung, ein Brief, – obendrein der stündlich anwachsende Aufgabenberg zur Vorbereitung des Festes, zugleich auch Vorfreude, erfüllt von Phantasiebildern liebender Einbettung, wenn dann alle eingetroffen sind.

So wächst ein seltsames Stimmungsgemisch aus trostreich-trüber Naturatmosphäre, aus Beklemmung angesichts des Treibens in den übervollen Straßen, aus Überforderung und Versagensangst, seltsam gepaart mit Vorfreude und Sehnsucht nach etwas Wunderbaren. Es fällt mir schwer, diese heterogenen Elemente zu sortieren, so dass ein Schuh draus wird, ein polierter Stiefel vielleicht sogar, den ich hinstellen kann, gefüllt mit Tannengrün und glänzendem Schokozeugs – Symbol einer Art von Glückseligkeit, die uns westliche Menschen in den Tagen vor dem Fest notorisch umtreibt.

Glück soll dann im Überschwang des Augenblicks liegen – das prallvolle Leben als überwältigende Stimmungsglocke, die uns und die anderen beseligend umschließt. Ob wir uns indes sehr klug dabei anstellen, das bekanntermaßen doch stets flüchtige Glück zum Verweilen einzuladen, wage ich kaum noch ernsthaft zu bedenken.

Deshalb frage ich eher zaghaft und verschämt: Sind wir womöglich glücksuntüchtig geworden? Jede mögliche Antwort darauf scheint mittlerweile abgedroschen, denn zeitgeistkritische Statements sind auf allen Medienkanälen problemlos vorzufinden. Direkt im Anschluss an Erfolgsbilanzen zum Weihnachtsgeschäft erklingen diese kritischen Stimmen, die den Konsumrausch verurteilen, vor Genussmittelmissbrauch warnen und die daraus resultierenden fatalen Konsequenzen allzu feuchtfröhlicher Betriebsfeiern satirisch aufbereiten.

Auf befremdliche Weise steht alles im Einklang: ungehemmter Trubel und seine skeptische Durchleuchtung, so als dienten die Beiträge der Bedenkenträger hauptsächlich der Legitimation, gleich im Anschluss daran den Karneval noch hemmungsloser fortzusetzen. Ich glaube aber nicht, dass solche Strategien der Glücksvermehrung irgendwie zuträglich sind.

Darüber scheint der Himmel heute schwermütig geworden, und ich erlebe dies wie eine süße, trostreiche Geste. Angesteckt von diesem Himmel fällt mir ein, dass Kant die Schwermut ein zärtliches Gefühl nannte, „davon ein edles Herz anschwillt, wenn es in einsamer Stille die Nichtswürdigkeit desjenigen erwägt, was bei uns gemeiniglich als groß und wichtig gilt.“

Er war tatsächlich der Meinung, dass dieses melancholische Fühlen mehr wahre Glückseligkeit zu bieten habe, als all die „ungestüme Belustigung des Leichtsinnigen und das laute Lachen des Thoren“, der unablässig eine Decke über alle traurigen Dinge des Lebens zu werfen sucht.

Der traurigen Dinge gibt es derzeit mehr als genug: im Lichterglanz des Weihnachtsmarktes müssen wir des Terrors gedenken, Europas Demokratiekultur scheint aus sich heraus marode geworden, uneinige Verhandlungsparteien manövrieren sich Zug um Zug in eine Sackgasse ohne Wendehammer und noch vieles mehr.

All dies ist menschengemacht, wohingegen sich die von Kant bezeichnete schmerzliche Wehmut auf die ewigen Dinge richtet, die – so seine Diagnose – die meisten Menschen nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Er attestiert ihnen einen fatalen Hang, „im Getümmel von Geschäften und im Gedränge von Lebenspflichten“ vor sich selbst verbergen zu wollen, dass das eigene Leben nicht mehr als eine schmale Brücke ist, welche „über einen Theil des Abgrundes der Ewigkeit geschlagen“ ist.

In Erinnerung an diesen Gedanken frage ich nun, ob es nicht gerade an Weihnachten darum gehen sollte, das Bewusstsein unserer Endlichkeit einmal nicht zu verdrängen. Käme es nicht darauf an, gerade in dieser Zeit der Rückblicke und Bilanzierungen die „unerforschliche Dunkelheit“ unserer Bestimmung auf Erden nicht zu ignorieren, sondern im Wissen darum eher aufeinander zuzugehen und Gräben zuzuschütten, die durch Wissensdünkel aller Art aufgerissen wurden.

Viele Theoretiker legen heute dar, dass kooperative Verhältnisse zwischen sehr verschiedenen Menschen nicht etwa deshalb gelingen, weil einer den anderen von der Richtigkeit seiner Auffassungen überzeugt hätte, sondern weil im kommunikativen Prozess Nachsichtigkeit und Selbstzurücknahme wirken. Wie aber kann dies möglich werden?

Müssten wir uns hierzu nicht die Kleinheit des fragilen Stegs, der unser Dasein ausmacht, viel nachdrücklicher bewusst machen, als es tatsächlich der Fall ist? Führt nicht gerade die Abspaltung dieser existenziellen Perspektive dazu, dass die menschliche Glückversessenheit so hoffnungslos ins Leere läuft?

Neulich hörte ich eine alte Lady sagen: „Wenn ich meine Zeit noch einmal hätte, würde ich keine To-do-Liste machen, sondern eine „To-don’t-do-Liste“. Eine andere singt ein Loblied der Hingegebenheit an das Jetzt, gelebt z. B. als Gute-Nacht-Muße mit ihren Enkeln, ohne dabei schon mit Unruhe an das frühe Aufstehen am nächsten Tag zu denken.

Während ihnen die eigene Endlichkeit spürbar zu Leibe rückt, sprechen diese altersweisen Frauenstimmen vom Wert alltäglicher Begegnungen und Berührungen und erinnern daran, dass das resonanzerfüllte Erlebnisglücks eher auf Zehenspitzen daherkommt. Das ist das eine, das andere ist die Vermutung, dass ohne diese Art der Glücksfähigkeit auch im Großen nichts zu bestellen ist.

Heidemarie Bennent-Vahle, 23. Dezember 2017

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