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Leitkultur? Ja oder nein, deutsch oder europäisch?

Foto: privat
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Philosophische Kolumne: Gemeinsinn und Fremdenangst

Der Autor Peter Vollbrecht erzählt von einer sommerlichen Radtour, auf der seine Tochter und er auf zwei Pensionsgäste trafen, die sich nicht mehr wohlfühlen in ihrer Heimat, in der es ihnen zu multikulturell geworden ist. Ein philosophisches Essay, das zeigt, das “wir” und “sie” so einfach nicht greift. Und dass unsere Gesellschaft in ihrem Gemeinsinn viele Risse und Spalten zeigt, für die wir Lösungen finden wie die des “eleganten Aneinander-Vorbeigehens bei gegenseitiger Duldung”.

Letzten Sommer unternahm ich mit meiner Tochter eine mehrtägige Radtour entlang der Elbe. Sattgrüne Flussauen, hochwassertauglich, hier atmet man noch Insekten ein. Ruhig fließt das schwärzliche Wasser, in dem sich vereinzelte Strudel drehen. Der Weltbetrieb scheinbar Lichtjahre entfernt.

Kleine Dörfer mit verfallenden Häusern, überwuchert von verwilderten Gärten, die Natur kehrt zurück. Kein Mensch zeigt sich auf der Straße, und wenn Laute vernehmbar sind, dann kommen sie gedämpft aus einem geöffneten Fenster. Ein Gespräch? Nein, es legt sich Musik darüber, es ist nur der Fernseher, die Sprache entstammt einem fremden Drehbuch. Heimat? Viele scheinen Reißaus genommen zu haben von ihr.

Abends logieren wir bei Strehla in einer kleinen Fahrradpension mit Blick auf die ‚wohl schönste Elbschleife‘, wie es im Prospekt lauten könnte. Zwei Monteure sitzen mit uns auf der Terrasse, sie designern gerade eine Tankstelle von Rot auf Gelb um. Zwei Muskelmänner mit Tätowierungen auf gewaltigem Bizeps, die Familie sehen sie nur an den Wochenenden.

Sie kommen aus Halle. „Eine schöne Stadt“, komplimentiere ich. „War mal schön!“, knurrt der eine. Ich frage nach, im Urlaubsmodus bin ich aufgeschlossener als sonst. „Wenn ich da in der Straßenbahn sitze und lauter Nigger um mich rum, dann ist das nicht mehr meine Stadt.“ –

Ach so, das also wird das Thema des Abends, tatsächlich, es liegt ihnen auf dem Herzen oder besser gesagt: es brennt ihnen ins Gemüt. Man spürt eine innere Not. Und was uns überrascht: sie geben zu verstehen, dass sie sich selbst nicht mögen in ihren Frontstellungen. „Wir sind nicht ausländerfeindlich, aber…“ Aber es muss gesagt werden, es muss. Denn so geht es nicht weiter. „Da hat Mutti Scheiße gebaut.“

Der Abend wird ein anschauliches Lehrstück in Sachen gestresster Psyche. Dem einen von beiden – er ist schweigsamer, vielleicht ermangelt es ihm aber auch an Eloquenz – trauen wir durchaus zu, ein Flüchtlingsheim abzufackeln. Vielleicht sogar beiden, denn im Schutz einer Gruppe Gleichgesinnter senkt sich bekanntlich die Schwelle zur Gewalt.

Doch sind es Rechtsradikale? Sie sind bekennende AfD-Wähler, und totalitäre Einstellungen wird man ebenfalls bei ihnen finden. Aber: Sie suchen das Gespräch, zumindest mit uns. Hier treten sie ja als Individuen auf und verklumpen zu keiner politischen Masse.

Wir halten uns zurück, widersprechen nicht, verurteilen und belehren nicht. Auch werfen wir keine der hohen Begriffe in die Runde, in denen unsere Zivilisation hängt. Wir hören einfach nur zu. Sie sehen die Sache mit der kulturellen Identität anders wie wir, aber sie werfen dabei die demokratischen und humanitären Werte nicht ab.

Sie bestaunen die Rastafari-Locken meiner Tochter, und sie neiden uns die Freiheit, einfach so durchs Land zu radeln ohne vorausgebuchtes Quartier für die nächste Nacht. Der Vater mit der sechsundzwanzigjährigen Tochter, cool, würde man auch gern, hat man selbst nie erlebt. Jeder soll so leben, wie er mag. Ihr Problem sind nur die Fremden, die ihre Identität gefährden. Aber sind tatsächlich ‚nur‘ die Fremden ihr Problem? Oder sind es ihre eigenen Verhältnisse?

Die Politik bietet Leuten wie ihnen das Schlagwort von der Leitkultur an. Nicht jede Politik, sie ist darüber ja selbst zerrissen. Die liberale Linke möchte nichts mit dem Begriff anfangen und hält das Grundgesetz dagegen wie das Kreuz gegen das Böse.

Und tatsächlich ist es ja so: Jeder Versuch, Leitkultur zu bestimmen, verführt entweder zu den hohen Begriffen vom christlichen Abendland und demokratischer Wertegemeinschaft oder zu den Niederungen des Kleinklein von festem Handschlag, Martinsgans und offenem Visier.

Abgrenzung fordert Assimilation. Dabei stand es einmal anders um den Begriff der Leitkultur. Eingeführt hatte ihn in die deutsche Debatte bezeichnenderweise ein syrischer Migrant vor zwanzig Jahren.

Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi regte an, Migranten und Deutsche sollten gemeinsam über Identitäten befinden ohne Über- oder Unterordnung der Beteiligten. „Wir integrierten Migranten wollen mitreden und nicht länger dulden, dass bestimmte Deutsche als unser Vormund auftreten.“ Es ging Bassam Tibi um gemeinsame Akte der Identifikation, und ausdrücklich sprach er von europäischer Leitkultur. Eine Nationalisierung oder gar Ethnisierung des Begriffs lehnte er ab.

Seitdem ist der Begriff politisiert worden und auf eine nationale Schmalspur geraten. Theo Sommer machte dabei den Beginn in der Zeit und musste alsbald erkennen, dass er mit seinem Artikel eine Büchse der Pandora geöffnet hatte. Die Parteipolitik trat an, den Begriff der Leitkultur zu okkupieren, und als schließlich die AfD auf den Zug aufsprang mit klotzigem Ton, war das Terrain längst schon vergiftet.

Die Rede von der Leitkultur war zum politischen Schlagwort verkommen, nur noch angetan, um Wählerschichten zu bewerben, was jüngst die Einlassungen der Minister Thomas de Maizière und Sigmar Gabriel belegen.

Dabei geht es längst nicht nur um die Kernwerte Freiheit, Grundgesetz und Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern um Werte wie Heimat und Orientierung, und die AfD votiert sogar für eine Revitalisierung eines geschichtlich belasteten Vokabulars. Der unausgesprochene „semantische Überschuss“ (Heiner Bielefeld) des Leitwert-Begriffs untergräbt den grundgesetzlichen Fundamentalwert der Gleichheit der Bürger und privilegiert die Nativen über die Einwanderer.

Was also hätten die beiden Monteure aus Halle von einer Leitkultur-Kultur? Sie würden eine Stimme gewinnen, die sie bislang noch nicht hatten. Bis vor kurzem waren sie noch stumm gewesen, jetzt spricht mal jemand Tacheles. Sie sehen sich bestätigt in ihren Rechten, die sie für angestammte halten, die sie wie einen deutschen Schutzwall um sich gürten. Und dafür sind sie bereit, den Rechtstaat zu diskreditieren und die Zivilgesellschaft dazu, sie machen sich auf, Mitspieler der Macht zu sein.

Und auf der andere Seite? Die Willkommenskultur in ihren Schattierungen. Gestern noch hielten sie sich für die einzigen Vertreter der Zivilgesellschaft, schließlich hatten sie ihn ja auch erfunden, ihren Titel. Er klingt nach bürgerlichem Kosmopolitismus – und er riecht nach liberalem Hochmut. Man kann es förmlich sehen, dieses Achtungsgefälle, auf beiden Seiten, und der Seiten gibt es da noch mehrere. So stehen die Dinge bei uns.

Leitkultur? Ja, wo denn? Wenn wir in den soziologischen Spiegel schauen, dann sehen wir viele Risse und Spalten. Aber das halten wir aus. Und wir finden Lösungen, dass auch die anderes es aushalten können mit uns.

Wir entdecken Formeln des antipathetischen Gemeinsinns. Wir entwickeln Praktiken des eleganten Aneinander-Vorbeigehens bei gegenseitiger Duldung. Vielleicht entwickelt sich aus diesem Soziotop sogar ein gemeinsamer Kompass, ohne den eine Gesellschaft nicht funktionieren kann.

Inmitten aller Auseinandersetzungen über Multikulturalismus, Heimat und Verstädterung: Ein Kompass für eine Zone der Ruhe, des Rückzugs. Dann für eine Sphäre von Selbstverständlichkeiten, der stillen Übereinkünfte im Leben. Regionen mit Bestandschutz des Vertrauten, nicht unbegrenzt, wir wollen unsere vielseitige Abneigungskultur in gegenseitiger Balance halten. ‚Wir‘, das wären dann – wir alle?

Peter Vollbrecht, 6. Februar 2018

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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