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Müssen wir uns des Reisens schämen?

Foto: privat
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Philosophische Kolumne

In den heißesten Tagen dieses Sommers ging es wieder auf Motorradtour. Sechs Tage, über die Großglockner-Hochalpenstraße nach Schloss Duino an die Adria, von dort durch die Dolomiten und über viele kurvige Pässe zurück. Insgesamt verbraucht: 80 Liter Benzin, diverse Plastikflaschen Mineralwasser und ja, Fleischgerichte waren auch dabei.

Altherrentour zu zweit wie jedes Jahr, ein Stück gelebter Freiheit, die nur Bikerinnen und Biker nachempfinden können. Und genau diese Exklusivität macht die Motorradfreiheit auch ein wenig verdächtig.

Kein Wunder also, dass sich am dritten Tag noch jemand dazu gesellte: die Scham. Über einen nächtlichen Traum hatte sie sich eingebucht. Als ich unsere Begleiterin näher musterte, fiel mir auf, dass sie zwei Gesichter hat. Das eine zeigt ein soziales Profil. Das hatte schon der alte Platon gezeichnet:

Als Zeus sich besorgt zeigte ob des Zwistes unter den Menschen, so heißt es im Protagoras, schickte er den Götterboten Hermes zu ihnen, damit er ihnen die Scham bringe als sittliche Orientierung. Solle er nur einige impfen oder alle?, fragte Hermes noch. Alle, so beschied der Götterboss, es könnten keine Staaten zustande kommen, wenn nur wenige der Scham teilhaftig würden. »Ja, gib sogar das Gesetz in meinem Namen, dass man den der Scham und Gerechtigkeit Unfähigen als einen Krebsschaden des Staates vertilge!«

Und das zweite Gesicht der Scham? Ein Portrait von ihr zu zeichnen ist etwas ganz anderes als sich selbst zu schämen. Das eine sind Theorie, Moral und kluge Worte, die mehr oder minder leichthin gesagt werden können, weil sie dem Schamgefühl nicht abgerungen werden müssen. Dem nämlich sind alle Worte vergangen.

Wer sich schämt, der kann sich weder rechtfertigen noch kommentieren. Ihm ist der Boden unter den Füßen weggezogen, und wenn es ganz arg kommt, dann steht er wie vernichtet da vor den sozialen Augen. Doch auch das sind wieder Worte aus gesicherter Distanz. Das zweite Gesicht der Scham hebt sich authentisch allererst aus dem Spiegelbild meiner selbst heraus. Im Extremfall zeigt es mir meine eigene verzerrte Fratze. Kaum ertrage ich sie dann, aber doch, ich bin es, kein Zweifel, auch wenn mir schwerfällt, es mit mir so auszuhalten.

Der Motorradtour schloss sich die Scham in milderem Auftritt an. Denn ich wusste sie klein zu halten, weil ich mich in bester Gesellschaft wiederfinde. Irgendwie, so gab ich unserer Begleiterin zu verstehen, machen es doch alle so. Wir alle wissen, dass wir unsere Gewohnheiten und Bedürfnisse ändern müssen in den Zeiten des Klimawandels. Doch verzichten?

Wir haben da eine allgemeine Erkenntnis, wissenschaftlich so gut begründet, dass nur Ignoranten sie leugnen können. Aber wir stolpern eben auch immer wieder über unseren Drang, Welt konsumieren zu wollen. Ein altbekannter Zwist von Vernunft und Begehren zieht sich quer durch das menschliche Leben. Kein Philosoph hat ihn je befriedigend und überzeugend schlichten können.

Am Vorabend einer ökologischen Krise, wie ihn der Planet seit Menschengedenken noch nicht erlebt hat, steigert sich dieser Zwist zu enormen Proportionen. Bislang haderte man entweder mit sich selbst oder man klagte die Verhältnisse an. Die wenigen nicht Korrumpierbaren, die Gandhis, Mandelas oder Martin Luther Kings, sie wurden Vorbild oder gar Lichtgestalt, an ihnen nahm der langsame humanitäre Fortschritt sein unbestechliches Maß.

Doch haben sie und andere, die ihnen folgen werden, noch genügend Leuchtkraft, um die Menschheit in sich selbst umzuwenden? Schnell müsste das gehen, denn uns bleibt kaum noch Zeit für den großen ökologischen Wandel, der auf nahezu allen Lebensfeldern sich vollziehen müsste: in der Ernährung, der Mobilität, der Industrie, der Arbeitswelt und an den Kapitalmärkten. Kann heute eine moralische Botschaft noch durch das Dickicht der Verhältnisse dringen?

Wir fahren hinauf zur Franz-Josefs-Höhe am Großglockner auf 2300 Meter Seehöhe. Die Straße endet in einem gigantischen verglasten Parkhaus. In den Scheiben spiegelt sich der sterbende Pasterze-Gletscher. Einst war er 13 km lang, heute weist er gerade noch 8 km auf, jährlich schmelzen, je nach Sommerhitze, 50 bis 100 Meter ab. Wir stehen am Kopf der kleinen Standseilbahn.

Vor 50 Jahren errichtet, führte er damals noch talwärts zur Gletscherzunge. Heute endet sie im grauen Geröll, ein steiler Weg führt von dort hinab zu einem See, in dem sich das Schmelzwasser staut. Der Gletscher selbst in weiter Ferne. „Das ist jetzt halt so“, sagen wir mit leiser Stimme, in der sich Trauer, Resignation und auch ein wenig Trotz mischen.

Und dann schweigen wir betreten, was soll man denn auch sonst noch sagen? Doch da spricht sie wieder, die Scham: Kann man so reden, darf man so reden? Und wenn so geredet wird, darf man dazu schweigen?

Die Gegebenheiten zu akzeptieren, das scheint die Position überwiegend meiner, aber auch der jüngerer Generationen zu sein. Das Wahlverhalten der letzten Europawahl bestätigt die Trennlinien zwischen den Jungen und den Älteren, den Etablierten. Doch das Kreuz auf dem Wahlzettel besagt nicht allzu viel.

Authentischer tritt da die Jugendbewegung auf. Was immer sie klimapolitisch in Zukunft bewirken wird, eines hat sie jetzt schon erreicht: Sie hat uns demaskiert mit unserem „Das ist jetzt halt so“. Manche schämen sich dabei, für sich selbst und für das eigene Umfeld. Gewiss – nicht jeder zahlt diesen moralischen Preis. Manche, und es sind nicht wenige, setzen hemdsärmelig auf technische Träumereien.

Andere wiederum entlasten sich, indem sie mit dem Finger auf die afrikanische Bevölkerungsexplosion zeigen oder auf die Soja-Plantagen in Amazonien. Es gibt viele Strategien, um sich gegen die Scham zu immunisieren. Für die Jugendbewegung sind die Schamvollen zwar keine laustarke Unterstützung, aber stille Sympathisanten, das sind sie schon.

Zudem schwelt in ihnen die Bereitschaft, auch einmal zu verzichten, sei es auf einen Flug oder nur auf einen Motorradtrip. Deshalb kommt es darauf an, sensibel mit der Schambereitschaft umzugehen. Denn sie wandert auf scharfem Grat, jederzeit ist sie in Gefahr abzustürzen ins Lager derjenigen, die der ethischen Hygiene wegen nach entlastenden Lizenzen verlangen. Kontraproduktiv wäre eine moralische Diktatur, die das Gute hochrüstet gegen das Schlechte.

Von der ökologischen Scham ist es ein langer Weg zum Handeln. Doch die Scham hält die Bereitschaft zur Anständigkeit wach. Das ist nicht wenig, wenn man in Anschlag bringt, in welchen unanständigen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen die Bürger es gewohnt sind, ihr Leben zu leben.

Peter Vollbrecht, 3. September 2019

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